Küsse im Morgenlicht
Mutter. Eine ruhige, gescheite und lebenskluge Frau. »Nein, deine Mutter war es nicht. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.« Sie war sich ihrer Sache ganz sicher und drückte diese Entschlossenheit auch mit ihrer Stimme aus. »Diese anderen älteren Damen, die plötzlich anfangen, Dinge in ihre Tasche zu stecken... Nach allem, was ich bisher über sie gehört habe, sind das Frauen, die ganz allgemein bereits ein wenig verwirrt sind und deren Erinnerungsvermögen sie nicht nur im Stich lässt, wenn es um ihre kleinen Diebeszüge geht. Und deine Mutter ist doch ganz anders.«
Luc zögerte, dann entgegnete er mit zärtlicher Stimme: »Nun ja. Vergiss nicht, sie hat in den vergangenen Jahren eine Menge durchmachen müssen...«
Wieder grübelte Amelia über ihre Schwiegermutter nach, dachte an deren ruhige Kraft. Dann drängte sie sich dicht an Luc und legte unter der Decke ihre Hand auf seine Brust. »Luc. Es ist nicht deine Mutter.«
Damit wich ein Teil seiner Anspannung wieder von ihm. Ein kleiner Rest jedoch blieb. Er ließ ihre Finger los und schlang seinen Arm um sie, während Amelia sich an ihn kuschelte. Dann drückte er sie fest an sich.
Er ließ sich von ihr trösten, nahm ihre Hilfe an, statt sie noch länger von seinem Kummer auszuschließen.
In stiller Dankbarkeit schloss Amelia die Augen, fühlte, wie er die Lippen auf ihren Scheitel presste, spürte das Gewicht seines Kopfes, als er seine Wange gegen die ihre schmiegte.
Nach einer kleinen Weile murmelte er leise: »Aber wenn es nicht Mama war... dann muss es Anne gewesen sein.«
19
Stillschweigend, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, waren Luc und Amelia zu der Übereinkunft gekommen, dass sie sich dem drohenden Unheil, das die Familie Ashford heimzusuchen schien, gemeinsam entgegenstellen würden. Was auch immer nun der konkrete Anlass für die neuerlichen Sorgen sein mochte - sie würden das Problem aus der Welt schaffen.
Als Diebinnen kamen also zunächst einmal sowohl Anne als auch Emily in Frage, denn beide waren auf den besagten Festen und Zusammenkünften gewesen, in deren Verlauf die diversen kleinen Preziosen abhanden gekommen sein sollten. Allerdings war nur schwer vorstellbar, wie Emily, die doch gerade so ganz und gar vertieft war in ihre Romanze mit Lord Kirkpatrick, neben ihrer Flirterei auch noch Zeit gefunden haben sollte, auf Beutezug zu gehen. Anne hingegen, die in letzter Zeit ohnehin auffällig ruhig und in sich gekehrt wirkte...
Es war bereits spät in der Nacht gewesen, als Luc leise gefragt hatte: »Hast du irgendeine Vorstellung, warum sie so etwas getan haben könnte?«
Amelia hatte den Kopf geschüttelt. Dann aber hatte sie plötzlich innegehalten und geflüstert: »Na ja, ich nehme an, sie braucht wohl ganz dringend Geld. Einen anderen Grund wüsste ich nicht. Es muss wohl um irgendeine Sache gehen, mit der sie sich weder an dich wenden mag noch an mich und auch nicht an deine Mutter.«
Dieser Schlussfolgerung hatte Luc nichts entgegenzusetzen. Dann, ehe sie endlich eng umschlungen eingeschlafen waren, hatte er hinzugefügt: »Eine Bitte habe ich aber noch - wir dürfen Anne erst dann auf diese Angelegenheit ansprechen, wenn wir einen echten Beweis gegen sie haben. Du weißt doch, wie sie ist.«
Dann war er verstummt, hatte seine Anmerkung nicht weiter ausgeführt, doch Amelia hatte auch ohne viele Worte gewusst, was er meinte. Denn wenn Anne schweigsam wie ein Geist und völlig in sich gekehrt bei den Mahlzeiten saß, dann schien das einen ganz anderen Hintergrund zu haben, als wenn Penelope sich aus der allgemeinen Unterhaltung zurückzog. Falls Penelope sich einmal nicht am Tischgespräch beteiligte, dann geschah das meist nur deshalb, weil sie in dem Moment einfach keinen Sinn darin sah, zu denen aus ihrer Sicht sinnlosen Plaudereien etwas beizutragen. Bei Anne dagegen wirkte diese Zurückhaltung eher, als wolle sie sich von der Außenwelt abschotten, als wollte sie sich am liebsten vor aller Augen in Luft auflösen und einfach gar nicht mehr wahrgenommen werden. Außerdem war Anne schon von Natur aus immer ein wenig angespannt. Es war also von Anfang an klar gewesen, dass es eine gewisse Zeit dauern würde, bis man ihr Rückgrat ein wenig gestärkt hätte und sie sich wirklich wohl fühlte auf dem gesellschaftlichen Parkett.
Eine unbegründete Anschuldigung jedoch würde ihr hart errungenes Selbstvertrauen sofort wieder zerstören. Wenn sie nun erfuhr, dass alle, auch ihre Familie und
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