Küsse im Morgenlicht
hochgewachsen war. Doch er hatte so still in den Schatten eines großen Busches gestanden, dass er fast schon unsichtbar gewesen war.
Portia verlangsamte ihren Schritt, plötzlich unsicher.
Wie einen Schutzschild nahm Amelia wieder die Rolle der Gastgeberin auf, setzte dieses gewisse Lächeln auf, das so viel sagen sollte wie »Die Herrin dieses Anwesens bin ich«, und blieb dann entspannt stehen. »Guten Abend. Ich bin Lady Calverton. Kann ich Euch irgendwie weiterhelfen?«
Der Unbekannte schenkte ihr ein blitzendes Lächeln und verbeugte sich dann mit eleganter Geste. »Nein, nein. Ich dachte nur gerade, ich hätte Hundegebell gehört, und da habe ich mich gefragt …«
Er sprach mit Londoner Akzent und klang recht kultiviert. Und dennoch … »Ja. Mein Ehemann hält ein sehr großes Rudel.«
»Zweifellos.« Noch einmal ließ er flüchtig seine Zähne aufblitzen und verbeugte sich abermals. »Mein Kompliment zu diesem wundervollen Abend, Lady Calverton. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet?«
Er wartete kaum ab, bis seine Gastgeberin seine Entschuldigung mit einem Nicken quittierte, ehe er auch schon wieder davonschlenderte, auf die Festwiese zurückkehrte und sich unter die Menge mischte. Amelia sah ihm nach. »Wer ist das? Kennst du ihn?«
Etwas langsamer setzten sie und Portia ihren Weg in die gleiche Richtung fort.
Schließlich schüttelte Portia verwundert den Kopf. »Also, von hier stammt er jedenfalls nicht.«
Amelia konnte sich nicht daran erinnern, dass sie beide einander schon einmal vorgestellt worden wären. Der Fremde war etwa so groß wie Luc, aber von wesentlich kompakterer Statur. In jedem Fall war er eine Erscheinung, die man nicht so schnell vergaß. Nach dem zu urteilen, was sie im Zwielicht von ihm hatte erkennen können, war er zwar recht anständig gekleidet, und doch stammte sein Mantel nicht von einem der Schneider, die die Londoner Hautevolee bevorzugte, und auch seine Stiefel waren nicht wirklich der letzte Schrei - Amelia war sich in ihrem Urteil recht sicher.
Portia zuckte mit den Schultern. »Ich vermute mal, er ist mit den Farrells gekommen. Oder mit den Tibertsons. Beide Familien haben überall im Land Verwandte, die dann meist den ganzen Sommer über hierbleiben.«
»Ja, so wird es wohl sein …«
Amelia und ihre Schwägerin mischten sich wieder unter die Gäste, deren Stimmung immer ausgelassener zu werden schien. Ein rascher Blick zum Himmel hinauf verriet Amelia, dass es noch zu früh war für das Feuerwerk. Zu dieser Jahreszeit erstreckte sich die Dämmerung über mehrere Stunden.
Gelassen schlenderten Portia und sie dann weiter zu jenem kleinen Platz, auf dem etliche Besucher zu den Klängen von drei Geigenspielern tanzten. Andere hatten sich im Kreis um die Tänzer versammelt, klatschten im Takt und lächelten, lachten und scherzten.
Wenngleich das Fest ja eigentlich nur ein Vorwand gewesen war und einem vollkommen anderen Zweck diente, so schien es doch ganz so, als ob der Abend auch auf der gesellschaftlichen Ebene ein voller Erfolg wäre. Alle genossen das Sommerfest in vollen Zügen.
Dann verhallte die Musik, und die Tänzer setzten sich mit erschöpftem Lachen ins Gras. Auch die Geigenspieler ließen für einen Moment ihre Bogen sinken, jedoch nur, um sich auf das nächste Stück zu einigen. Dann hoben sie abermals an zu spielen, woraufhin sich einige der Tänzer mit mattem Lächeln verabschiedeten, während andere sich wieder aufreihten und dann unter schwungvollen Drehungen und Hüpfern zu der nächsten temporeichen Melodie tanzten.
Plötzlich schlossen sich kühle Finger um Amelias linke Hand.
Sie sah auf und entdeckte Luc hinter sich.
Er erwiderte ihren Blick. »Komm, lass uns mittanzen.«
Sie zögerte, dann aber löste Portia Amelias rechte Hand aus ihrer Armbeuge und gab ihr einen leichten Schubs. »Ja. Tanzt mit. Die Leuten erwarten doch von euch, dass ihr mitmacht.«
Amelia schaute ihre Schwägerin an und sah, wie diese giftig ihren Bruder anfunkelte. Verwirrt fuhr Amelia zu Luc herum, doch der hob nur leicht eine Braue, zog seine Ehefrau an sich und mischte sich mit ihr unter die Tanzenden.
»Was war das denn?«
»Das war Portia, wie sie gerade wieder einmal ihre herrische Seite herauskehrt. Du wirst dich schon noch daran gewöhnen.«
Die Resignation, die in seiner Stimme mitschwang, ließ Amelia unwillkürlich auflachen. Wieder zog Luc nur stumm die Brauen hoch und führte Amelia mit raschen, geübten Schritten durch die Figuren
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