Küsse im Morgenlicht
eintreten, um herauszufinden, was dort vonstatten ging, als er Simons Ruf hörte.
»Sie ist hinter der Loggia …«
Sie.
Als er dieses kleine Wort vernahm, blieb Luc abermals wie angewurzelt stehen. Mit geradezu niederschmetternder Wucht stürmten die unterschiedlichen Möglichkeiten auf ihn ein, die das scheinbar so unbedeutende Wörtchen nach sich zog. War es denn möglich, dass sie alle sich dermaßen getäuscht hatten? War Anne etwa aus dem Fenster geklettert und dann um das gesamte Haus herumgeschlichen? Oder war sie überhaupt gar nicht erst in ihrem Schlafzimmer verschwunden, als alle sich zu Bett begeben hatten, sondern gleich in Helenas Zimmer geschlichen?
Luc wirbelte herum und marschierte in Richtung des Ostflügels davon.
Noch immer hielt Amelia vor Annes Tür Wache. Auch sie hatte Simons Ruf gehört, doch das Haus war viel zu massiv gebaut, als dass sie Genaueres hätte verstehen können. Dann aber, als sie Luc auf sich zukommen sah, verstand sie. Ohne zu zögern langte sie nach dem Türknauf von Annes Tür.
Schwungvoll trat sie in deren Zimmer ein. »Anne?« Keine Antwort. Dunkle Schatten verbargen das Bett. »Anne!«
»Hm? Was...?« Anne strich sich ihr dichtes, braunes Haar aus dem Gesicht und setzte sich schlaftrunken in den Kissen auf. Blinzelnd schaute sie in Amelias Richtung. »Was ist denn los?«
Mit einem strahlenden Lächeln blickte Amelia ihre Schwägerin an. Erleichterung und plötzliche Erregung durchströmten sie mit Macht. »Nichts, nichts. Es ist alles in Ordnung. Schlaf ruhig weiter.«
Dann hörten sie Lärm, der sich hinter dem Hause erhob. Amelia rannte ans Fenster, riss die Vorhänge zurück und stemmte das Schiebefenster hoch. Sie hörte, wie auch Luc in das Zimmer seiner Schwester geeilt kam und schließlich neben sie trat.
»Was ist denn bloß los?«, fragte Anne, die noch immer in ihrem Bett lag.
Nach einer winzigen Pause entgegnete Luc: »Das wissen wir selbst noch nicht so genau.«
Amelia nahm ganz deutlich die aus tiefstem Herzen empfundene Erleichterung wahr, die in seiner Stimme mitschwang, und spürte fast körperlich, wie die schier unerträgliche Last der vergangenen Tage sich von seinen - von ihren - Schultern hob. Straff hielt sie die Vorhänge zurück und lehnte sich weit aus dem Fenster, während Luc sie dicht an sich zog. Eine knappe Sekunde später schlüpfte Anne hastig in ihren Morgenmantel und drängte sich neben sie beide.
Was sie sahen, war nur schwer zu begreifen. Auf dem Rasen hinter dem Haus lieferten drei Personen sich ein erbittertes Handgemenge. Genaueres war zunächst nicht zu erkennen, denn die riesigen Bäume des nahen Waldes tauchten alles in ihre schwarzen Schatten. Schließlich lösten sich aus dem Trio zwei große Gestalten, die eine dritte Person in Richtung des Hauses zerrten. Die kleine Person in ihrer Mitte wehrte sich, wenngleich nur schwach.
Unter Amelia, Luc und Anne wurde eine Tür geöffnet. Amanda marschierte auf die Terrasse. Sie winkte der kleinen Gruppe zu. »Bringt sie hierher!«
Daraufhin änderte das Dreiergespann seine Richtung. Einen kurzen Augenblick später traten die dunklen Gestalten endlich aus den Schatten heraus, und man konnte ihre Gesichter erkennen. Martin und Lucifer führten sanft, doch unerbittlich eine schmale weibliche Gestalt zwischen sich. Sie hatte sich in einen Umhang gehüllt, schüttelte unaufhörlich den Kopf und schluchzte hysterisch. Dabei war ihre Kapuze zurückgeglitten, sodass man einen üppigen, braun gelockten Schopf erkennen konnte.
Luc runzelte die Stirn. »Wer ist das?«
Amelia erkannte sofort, wer die kleine Person war.
Doch es war Anne, die schließlich mit riesigen Augen auf das Mädchen hinabstarrte und ausrief: »Gütiger Gott - das ist ja Fiona! Was, um Himmels willen, geht denn hier vor?«
Es war nun schon das dritte Mal, dass Anne diese Frage stellte, doch keiner antwortete. Niemand wusste, wie er ihr das ganze Geschehen erklären sollte. Zumal noch immer nicht klar war, was genau sich eigentlich hinter der ganzen Angelegenheit verbarg...
»Das erklären wir dir morgen.« Luc wirbelte herum und marschierte aus dem Zimmer. Amelia und ihre Schwägerin hörten, wie er den Korridor entlangrannte und auf die Treppe zueilte.
Amelia starrte hinter ihm her.
»Amelia!«
Sie drehte sich um und schaute Anne an. »Ich hab jetzt leider wirklich keine Zeit … Aber ich verspreche dir, dass wir dir morgen früh alles ausführlich erklären werden. Bitte, geh einfach wieder zurück in
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