Küsse im Morgenlicht
Amelia.
Alle ließen hektisch die Blicke über den Garten schweifen, der nun noch finsterer schien als noch vor wenigen Minuten. Zügig sammelten sich immer dichtere Wolkenschwaden vor dem Mond.
»Da!« Penelope deutete zu dem Rasenstück gleich neben dem Rosengarten hinüber. Dort, auf dem schmalen Pfad, konnte man undeutlich zwei miteinander ringende Gestalten erkennen.
»Wer …?«, fragte Amelia mit leiser Stimme, doch eine eiserne Faust schien sich plötzlich um ihr Herz zu schließen, und eine bange Ahnung erfüllte sie.
»Na ja, wenn sie unten im Musikzimmer Fiona gefangen halten...«, erwiderte Portia, »… dann muss das da wohl Anne sein.«
»Diese Idiotin!«, zischte Penelope. »Wie kann man nur so dumm sein.«
Amelia entgegnete nichts, sondern rannte bereits durch die Tür davon.
»Halt, bleib stehen, Amelia!«, rief Portia ihr nach. »Der Kerl da ist mit Sicherheit Teil des Diebessyndikats -«
Amelia überließ die beiden ihren Schlussfolgerungen. Ihre Schwägerinnen bewiesen bei derlei kniffligen Aufgaben eindeutig mehr Köpfchen als sie selbst. Vor allem bestand die berechtigte Hoffnung, dass die beiden Blaustrümpfe sich im Nu derart in ihre Argumentationen und Vermutungen verstrickten, dass sie das Geschehen im Untergeschoss des Hauses völlig vergaßen und blieben, wo sie waren - sicher und beschützt und weitab von jeglicher Gefahr. Amelia hastete die Haupttreppe hinab, während sie immer wieder laut nach Luc rief. Hoffentlich fand sie ihn bald, und hoffentlich begriff er sofort, in welcher Gefahr seine Schwester schwebte! Für langatmige Erklärungen war jetzt nämlich keine Zeit.
Soweit Amelia dies hatte erkennen können, hatte der Mann, wer immer das auch sein mochte, seine Hände um Annes Kehle gelegt.
»Luc!« Amelia sprang die letzten Stufen in die Eingangshalle hinab, schlitterte über die glatten Bodenfliesen, machte eine leichte Kehrtwendung und stürmte den Ostkorridor hinunter. Am schnellsten erreichte sie Anne, wenn sie den Weg durch das Gewächshaus nahm… Ohne nachzudenken preschte Amelia zwischen den Pflanzen hindurch.
Dann rannte sie über den Rasen, kam dem miteinander kämpfenden Paar immer näher - ein Glück, noch lag keiner am Boden, noch rangen sie! Schließlich, als sie keuchend immer weiter hastete, erkannte sie, wer die kleine Gestalt in dem Würgegriff des Fremden war, und rief mit letzter Kraft: »Anne! Anne! «
Plötzlich hielt die größere der beiden Gestalten inne, und die Kämpfenden lösten sich ein Stückchen voneinander. Dann schleuderte der Schurke Anne mit einem lästerlichen Fluch zu Boden und rannte in Richtung des kleinen Wäldchens davon.
Völlig außer Atem kam Amelia schließlich bei ihrer Schwägerin an. Wenigstens hatte dieser elende Verbrecher die junge Frau auf den Rasen geschleudert und nicht gegen die Steinmauer. Anne rang hustend und keuchend nach Luft und versuchte, sich vom Boden hochzustemmen. Amelia half ihr, sich in eine sitzende Position aufzurichten. »Wer war das? Kennst du ihn?«
Anne schüttelte den Kopf. »Aber -« Sie schluchzte leise, bezwang sich dann aber wieder und erklärte: »Aber ich glaube, er war gestern Abend unter den Gästen.« Mühsam tat sie einen weiteren Atemzug. »Er dachte, ich wäre Fiona.« Sie umklammerte Amelias Hand. »Wenn du nicht meinen Namen gerufen hättest... Er wollte mich umbringen! Wollte Fiona umbringen! Aber als er mich dann genauer ansah und begriff, dass ich nicht Fiona bin …«
Amelia tätschelte ihr beruhigend die Schulter. »Bleib hier.« Sie starrte in das dunkle Gehölz. Nun galt es, schnell eine Entscheidung zu fällen. Hatte Fiona das Collier an sich genommen und an den Schurken weitergereicht, ehe man sie hatte fangen können? Amelia wusste es nicht. Und auch Anne konnte ihr diese Frage sicherlich nicht beantworten. »Wenn Luc kommt, dann sag ihm, dass ich dem Mann gefolgt bin. Ich werde mich nicht mit ihm anlegen, aber ich will ihn wenigstens im Auge behalten, bis Luc und die anderen bei uns sind...«
Damit löste sie ihre Finger aus Annes verzweifeltem Griff, stand auf und rannte weiter. Der Pfad führte direkt in den kleinen Wald hinein. Schon schlossen sich die Bäume um sie und hüllten sie in ihre dunklen Schatten ein. Sie hastete weiter, rannte zwar nicht mehr, aber beeilte sich mit zügigen Schritten, dem Schurken auf den Fersen zu bleiben, ihre Füße, die in weichen Slippern steckten, bewegten sich fast lautlos auf den von Laub bedeckten Pfaden. Sie kannte dieses
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