Küsse im Morgenlicht
kontrollierte, ob alle noch auf ihren Positionen waren, und nahm schließlich wieder seinen Posten ein. Sie alle waren müde und erschöpft, und wenngleich niemand dies in Worte fasste, so fragte sich doch jeder im Stillen, ob sie die Lage nicht eventuell vollkommen falsch eingeschätzt hatten und der Dieb, aus welchen Gründen auch immer, gar nicht erscheinen würde.
Die Minuten und Stunden zogen sich in die Länge, und sie mussten eisern dagegen ankämpfen, nicht einfach im Stehen einzuschlafen.
Helena dagegen, die fast senkrecht in ihrem Bett saß, hatte wesentlich weniger Schwierigkeiten, wach zu bleiben, als ihre besorgten Verwandten. Das hohe Alter hatte sie von der Notwendigkeit des Schlafs entbunden, sodass der Herzoginwitwe weniger an einer geregelten Nachtruhe gelegen war als an einigen ruhigen Momenten, in denen sie einfach nur entspannen und ihren Erinnerungen nachhängen durfte.
Helena lag also vergleichsweise munter in den hochaufgeschichteten Kissen, spähte durch die Dunkelheit immer wieder zu ihrem Collier hinüber und schwelgte unterdessen in den Bildern ihrer Vergangenheit. Sie dachte an all die wunderbaren Momente, die sie hatte erleben dürfen, und fast alle ihre Erinnerungen begannen mit dem Tag, als das Schicksal und Sebastian sie regelrecht überlistet hatten, und Helena trotz ihres Widerwillens das Collier entgegengenommen hatte.
Sie träumte noch einmal von den Wundern des Lebens und der Liebe, die sie hatte erfahren dürfen.
In Gedanken war die Herzoginwitwe weit fort und durchlebte im Geiste noch einmal die Tage der Vergangenheit - als plötzlich die Tür des unmittelbar gegenüber ihrem Bett stehenden Kleiderschrankes langsam und lautlos aufschwang.
23
Helena beobachtete, wie eine in einen langen Umhang gehüllte Gestalt vorsichtig und in geduckter Haltung aus den Tiefen des Schranks heraustrat. Ängstlich drehte sich die Gestalt zu dem großen Bett um, dann zögerte sie. Ein Mann war sie in jedem Fall schon einmal nicht, dazu war sie zu schmal und zu klein. Doch sie hatte die Kapuze ihres Umhangs tief in die Stirn gezogen, sodass beim besten Willen nicht zu erkennen war, wer sich darunter verbergen mochte.
Helena verharrte absolut reglos in ihrem Bett, tat so, als schliefe sie. Offenkundig beruhigt darüber, dass die Herzoginwitwe sich nicht rührte, richtete die Unbekannte sich langsam auf und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Dann entdeckte sie das Collier.
Das schwache Mondlicht, das zum offenen Fenster hereinströmte, verlieh den Perlen einen fast schon übernatürlichen Glanz.
Näher und immer näher bewegte sich die zierliche Gestalt auf den Tisch zu. Zwischen den Falten des Umhangs erschien eine kleine Hand, und schmale Finger streckten sich aus, um nach den irisierenden Perlen zu greifen.
Helena sah, wie die Fingerspitzen der Gestalt plötzlich zitterten, spürte, wie die Unbekannte noch zu zögern schien. Und mit einem Mal wusste Helena, wer die Diebin war. Mit warmer und unendlich nachsichtig klingender Stimme fragte sie: » Ma petite , was tust du da denn bloß?«
Abrupt hob die Gestalt den Kopf. Helena setzte sich in ihrem Bett auf. Die schmale Gestalt stieß einen angstvollen, gepressten Schrei aus - fast klang es wie das Jaulen eines Tieres. Einen Augenblick lang stand sie wie erstarrt da und sah Helena an.
»Komm«, bat Helena sie. »Schrei nicht. Komm einfach her, und erzähl mir, warum du das tust.«
Plötzlich waren von draußen vom Korridor schwere Schritte zu hören. Das Mädchen riss den Kopf herum, starrte auf die Tür, dann rannte sie voller Panik zuerst in die eine Richtung und dann in die andere.
Helena stieß einen gedämpften Fluch aus - natürlich auf Französisch - und bemühte sich, aus ihrem Bett aufzustehen.
Die Gestalt schrie abermals auf, rannte zum offenen Fenster und beugte sich abschätzend über die Balustrade. Das Zimmer lag im ersten Stock.
»Nein!«, befahl Helena. »Komm zurück!« Jahrhunderte der Macht schwangen in ihrer Stimme mit.
Unsicher wandte das Mädchen sich wieder um.
In dem Moment stürmte Simon zur Tür herein.
Mit einem Schrei, wie er angstvoller nicht hätte klingen können, sprang die verhüllte Gestalt aus dem Fenster.
Simon fluchte, hechtete mit einem Satz zum Fenster und schaute der Flüchtenden nach.
»Gütiger Gott!« Er starrte auf das Mädchen hinab. »Sie ist auf der Loggia gelandet.« Er beugte sich noch ein Stückchen weiter hinaus und winkte der Diebin hektisch zu. »Komm zurück, du
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