Küsse im Morgenlicht
ihre Finger auch schon um den Ast.
Dann hielt sie noch einmal einen winzigen Augenblick inne, nahm all ihre Kraft zusammen, trat einen Schritt vor und riss dabei zugleich den Ast hoch -
Kirby ahnte wohl auf irgendeine Weise das Unheil, das ihm drohte, und wollte sich gerade nach Amelia umdrehen -
Da ließ sie den Ast so hart auf seinen Schädel niedersausen, wie sie nur irgend konnte. Mit einem befriedigenden Krachen zerbrach ihre behelfsmäßige Waffe an Kirbys Kopf.
Er sackte zwar nicht unmittelbar zusammen, doch er geriet immerhin ins Schwanken.
Langsam und schwerfällig schüttelte er den Kopf, so als ob er sich über irgendetwas wunderte.
Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, trat Luc vor, packte hastig Kirbys Handgelenk und hielt damit das Messer ein gutes Stück von sich fort. Mit seiner anderen Faust versetzte er ihm einen coup de grâce , sozusagen den Gnadenstoß, und schwer wie ein Stein stürzte Kirby schließlich auf den mit Blättern übersäten Waldboden.
Amelia, die noch immer die Überreste des Astes in den Händen hielt, starrte Luc an. »Ist er …?«
Luc sah auf den reglos daliegenden Schurken hinab. Dann bückte er sich und zog ihm das Messer aus der Hand. »Der ist bewusstlos. Fürs Erste wird der wohl nicht mehr aufwachen.«
Von irgendwo aus der Ferne drangen aufgeregte Stimmen zu ihnen herüber. Man rief nach ihnen. Ihre Freunde rückten stetig näher.
Noch aber gab es nur sie beide und die Stille, die sie umschloss, und in der noch immer der Nachhall all jener Worte zu schweben schien, die Amelia in ihrer Angst und in ihrem Zorn herausgebrüllt hatte …
Voller Panik versuchte sie, sich wieder in Erinnerung zu rufen, was genau sie Kirby eigentlich alles gesagt hatte. Wie viel von alledem mochte Luc wohl mitgehört haben? Theoretisch hätte er schon eine geraume Zeit im Unterholz lauern können … Aber er würde doch wohl nicht ernsthaft glauben… glauben, dass sie glaubte …?
Amelia ließ den Ast sinken, legte bittend die Handflächen aneinander, räusperte sich. »Ich -«
»Du -«
Abrupt verstummten sie beide, ihre Blicke trafen sich - stumm starrten sie einander in die Augen. Amelia hatte das Gefühl, als ob sie in der Intensität seines Blicks geradezu ertrinken müsse. Sie rang um Atem, ahnte, wie sich vor ihr ein Abgrund auftat … ein Abgrund voller Glückseligkeit oder auch voller Verzweiflung. Noch konnte sie nicht sagen, was sie erwartete.
Mit steifen Schritten trat Luc noch ein wenig näher und umfasste ihre Hände. Dann seufzte er und riss Amelia förmlich in seine Arme. Drückte sie so fest an sich, als wollte er sie regelrecht zerquetschen. »Am liebsten würde ich dir den Hintern dafür versohlen, dass du ganz allein davongerannt bist. Du hast dich in Lebensgefahr gebracht!«, knurrte er, den Kopf an ihre Locken geschmiegt, die Arme mit schraubstockartigem Griff um sie geschlossen.
Dann spürte Amelia, wie er seine Umarmung wieder ein wenig lockerte.
»Aber … zuerst einmal …« Er wich ein winziges Stückchen zurück und blickte ihr offen ins Gesicht. »Zuerst einmal muss ich dir etwas sagen. Etwas, das ich dir schon vor langer Zeit hätte sagen sollen.« Seine Lippen verzogen sich zu einem fast schon spöttischen Grinsen. »Eigentlich muss ich dir sogar zwei Dinge gestehen, wenn man es genau nimmt. Und diesmal will ich es wirklich sehr genau nehmen. Ich will dir die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit.« Er atmete einmal tief durch, den Blick tief in ihre Augen gesenkt. »Ich -«
»Grrrr! Wuff! Wuff-Wuff! «
Luc fuhr überrascht herum. Schweigend starrten sie beide einen Moment lang auf den Pfad. »Verdammt!« Luc ließ Amelia wieder los und wandte sich zu dem kleinen Weg um. Dumpfes, rhythmisches Trommeln und ein unentwegtes Knacken und Krachen drang zu ihnen herüber. »Sie haben die Hunde rausgelassen!«
Luc konnte seine Worte selbst noch kaum glauben, da brachen die Tiere auch schon durch das Unterholz. Außer sich vor Freude und ganz hektisch und aufgeregt, endlich ihren Herrn aufgespürt zu haben, stürmte eine nicht gerade kleine Schar von Hunden auf sie beide zu. Doch es kamen immer noch mehr, und schließlich wurde klar, dass nicht nur die Leithunde ihnen zu Hilfe geeilt waren, sondern die gesamte Meute. Luc hatte sich dicht vor Amelia gestellt. Sie klammerte sich an die Rückseite seines Überrocks und drängte sich Schutz suchend an ihn. Zwar hatte sie keine Angst vor den Hunden, doch sie fürchtete, von den unzähligen
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