Küsse im Morgenlicht
die - ganz in der Art der Matriarchin der Familie - das Kommando über die erschöpfte Gesellschaft übernahm. Unter Hervorhebung der Tatsache, dass Luc immerhin der örtliche Friedensrichter sei, und dass sich zudem unter der Treppe ein solides Kellergewölbe befand, befahl sie, »den Verbrecher«, wie Kirby nun übereinstimmend von allen genannt wurde, erst einmal dort einzusperren, bis man ihn später zu weiteren Befragungen wieder herausholen wollte. Bis es so weit wäre, so erklärte die Herzoginwitwe weiter, bräuchten sie aber alle erst einmal eine ausreichende Ruhepause.
Wie immer, so hatte Helena natürlich auch diesmal wieder Recht in allem, was sie verfügte. Trotzdem hoffte Amelia, dass, ehe sie und Luc einschliefen...
Sie wusste ja nicht einmal, was er ihr überhaupt sagen wollte. Zumindest nicht mit letzter Gewissheit. Und dennoch schwebte sie bereits geradezu auf einer Wolke aus Hoffnungen und Träumen, als sie nun ihr privates kleines Wohnzimmer betrat. Zwei Dinge wollte er ihr erklären - das zumindest hatte er gesagt. Und tief in ihrem Herzen ahnte Amelia bereits, was zumindest das eine dieser geheimnisvollen beiden Dinge war.
Vor ihr lag der endgültige Triumph, der Lohn ihres langen und unermüdlichen Strebens.
Und dieser Triumph war eine wahrhaft mächtige Droge. Noch während Amelia sich auszog und ihre Abendtoilette machte, strömte die berauschende Vorfreude bereits langsam durch ihre Adern hindurch. Dann, als sie sich daranmachte, ihr Haar auszubürsten, war die Ungeduld schon kaum noch zu bändigen. Um sich abzulenken - schließlich wusste sie nicht, wie lange Luc noch brauchen würde, um das Kellergewölbe als provisorisches Gefängnis herzurichten und Kirby ausbruchssicher darin einzuschließen -, versuchte sie schon einmal zu erraten, welches andere Geheimnis er ihr wohl noch gestehen wollte.
Wenngleich das wohl keine allzu große Angelegenheit mehr sein würde … zumindest nach Amelias Einschätzung.
Was jedoch umso dringlicher schien, war die Frage, warum Luc ihr ausgerechnet jetzt sein Herz ausschütten wollte. Was hatte Kirby gesagt, dass ihr Ehemann sich nun so plötzlich dazu gedrängt fühlte, ihr …
Immer langsamer fuhr sie mit der Bürste durch ihr Haar. Dann hielt sie abrupt inne. Ohne wirklich etwas zu sehen, starrte sie ihr Spiegelbild an. Sie und Kirby hatten in jenen hitzigen, angsterfüllten Minuten auf der Lichtung doch im Grunde bloß über zwei Punkte diskutiert.
Sie hatten darüber gestritten, ob Luc sie nun innig genug liebte, um für ihre sichere Rückkehr zu zahlen, oder eben nicht.
Und sie hatten darüber gesprochen, wie es um Lucs Vermögen bestellt wäre.
Euer Mann ist doch so reich wie Krösus persönlich ...
Kirby hatte behauptet, dass er das alles bereits überprüft hatte. Und er hatte sich so angehört, als ob er sich seiner Sache in der Tat recht sicher war. Zumal er trotz all seiner niederträchtigen Absichten zweifellos eine gewisse Schläue besaß. So reich wie Krösus persönlich... Es war nur schwer vorstellbar, dass Kirby sich ausgerechnet in einem solch bedeutenden Teil seines Plans dermaßen geirrt haben sollte …
Im Geiste ließ Amelia noch einmal die vergangenen Monate Revue passieren. Sie erinnerte sich noch einmal an all die kleinen Hinweise, die sie bereits gesammelt hatte, dachte noch einmal an alles, was sie mit eigenen Augen hatte beobachten können, alles das, was sie schließlich zu der Erkenntnis gebracht hatte, dass Luc - und die Ashfords im ganz Allgemeinen - alles andere als vermögend waren.
Sie konnte das doch nicht alles völlig falsch verstanden haben … oder etwa doch?
Aber nein, natürlich nicht! Schließlich hatte er ja quasi selbst zugegeben, dass sie Recht hatte mit ihrer Vermutung...
Obwohl, nein, im Grunde hatte er ihr nichts dergleichen gestanden. Nicht wirklich.
Genau genommen sogar mit keinem Wort.
Selbst in der Übereignungsurkunde, mit der ihre Mitgift in sein Vermögen einfloss, waren die Erträge seiner Ländereien und seines restlichen Vermögens auf Lucs Drängen hin nur in Prozentbeträgen aufgeführt worden, sodass nicht zu erkennen war, auf welche Summen sich diese Gewinne tatsächlich beliefen. Amelia war damals davon ausgegangen, dass es sich wohl bloß um sehr geringe Erträge handeln konnte.
Was aber, wenn das Gegenteil der Fall wäre und diese Erträge nun sogar recht beträchtlich waren?
All die Reparaturarbeiten... das Bauholz, das bereits geordert worden war, obwohl es doch erst
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