Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
Damals hatte er sie nur benutzt, um sich an Henry zu rächen. Aber Henry war jetzt tot, und sich mit ihr einzulassen konnte bedeuten, dass er das Erbe verlor, das Henry für ihn bestimmt hatte. Nick war zwar vieles, ausnahmslos kompliziert, aber dumm war er nicht.
Sie bog nach links in den Durchgang zum Hinterhof ab und steuerte auf die Treppe zu, die zu ihrer Wohnung führte. Das alles ergab keinen Sinn, aber vieles, was Nick tat, hatte für sie nie einen Sinn ergeben.
In jeder anderen Stadt hätte Delaney vielleicht Angst gehabt, allein im Dunkeln durch die Straßen zu laufen, aber nicht in Truly. Zwar wurde gelegentlich eins der Sommerhäuser auf der Nordseite des Sees aufgebrochen, aber etwas wirklich Schlimmes passierte hier nie. Die Leute schlossen ihre Autos nicht ab und machten sich meist auch nicht die Mühe, ihre Häuser zu verriegeln.
Doch Delaney hatte schon in zu vielen Großstädten gelebt, um einfach wegzugehen, ohne abzuschließen. Sobald sie die Treppe hinaufgestiegen und in ihrer Wohnung war, sicherte sie die Tür hinter sich und warf ihre Schlüssel auf den schwarzen Couchtisch aus Glas. Während sie ihre Stiefel auszog, musste sie an Nick und ihre unfassbare Reaktion auf ihn denken. Ein paar unachtsame Momente lang hatte sie ihn begehrt. Und er sie auch. Sie hatte es an seinen Berührungen gemerkt und an seiner Erektion.
Der Stiefel in Delaneys Hand krachte zu Boden, und sie starrte stirnrunzelnd in die Dunkelheit. Mitten auf einer proppenvollen Tanzfläche hatte sie ihn geküsst, als wäre er eine sündhafte Nascherei, und sie würde brennend gern davon kosten. Er hatte sie lichterloh entflammt, und sie hatte ihn begehrt wie schon seit Langem keinen Mann mehr. Wie sie ihn schon einmal begehrt hatte. Als existierte außer ihm niemand und wäre sonst nichts von Bedeutung. Nick war der einzige Mann, den sie je gekannt hatte, dem es gelang, sie alles vergessen zu lassen. Er hatte etwas an sich, das ihr geradewegs zu Kopf stieg. Heute Abend waren ihr seine Berührungen unter die Haut gegangen, genau wie in jener Nacht vor zehn Jahren, bevor sie Truly verlassen hatte.
Sie wollte nicht daran denken, was damals geschehen war, aber sie war erschöpft und ihr Gedächtnis machte einen unaufhaltsamen Sprung zurück zu den Erinnerungen, die sie stets hatte verdrängen wollen, aber trotzdem nie vergessen konnte.
Der Sommer nach dem Highschool-Abschluss hatte mies begonnen und wurde nach und nach zur reinsten Hölle. Sie war gerade achtzehn geworden und fand, dass es langsam an der Zeit war, über ihr Leben selbst bestimmen zu können. Sie wollte nicht sofort aufs College. Sie wollte ein Jahr Pause machen, um herauszufinden, was sie wirklich wollte, aber Henry hatte sie schon an der University of Idaho vormerken lassen, wo er Mitglied im Verein der Ehemaligen war. Er hatte ihre Seminare ausgesucht und sie für eine erdrückende Anzahl von Erstsemesterkursen angemeldet.
Ende Juni brachte sie endlich den Mut auf, mit Henry über einen Kompromiss zu sprechen. Sie wollte als Teilzeitstudentin die Boise State University besuchen, wo Lisa studieren wollte, und Kurse belegen, die ihrer Meinung nach interessant klangen.
Er sagte Nein. Thema erledigt.
Als der Einschreibungstermin im August bedrohlich näherrückte, sprach sie Henry im Juli noch einmal darauf an.
»Sei nicht albern. Ich weiß, was für dich das Beste ist«, beharrte er. »Deine Mutter und ich haben das schon besprochen, Delaney. Deine Zukunftspläne sind ziellos. Du bist viel zu jung, um zu wissen, was du willst.«
Aber sie hatte es gewusst. Und zwar schon lange, und irgendwie hatte sie immer geglaubt, dass sie es an ihrem achtzehnten Geburtstag bekommen würde. Aus irgendeinem Grund hatte sie geglaubt, dass man ihr mit ihrem Recht zu wählen auch Freiheit zugestehen würde. Und als ihr Geburtstag im Februar verstrichen war, ohne dass sich in ihrem Leben das Geringste geändert hätte, hoffte sie, dass ihr der Highschool-Abschluss Befreiung von Henrys Bevormundung bringen würde. Sie würde endlich die Freiheit haben, auszubrechen und Delaney zu sein. Wild und verrückt zu sein, wenn ihr danach war. Alberne Unikurse zu belegen. Löchrige Jeans oder zu viel Schminke zu tragen. In den Klamotten rumzulaufen, die sie wollte. Auszusehen wie ein Yuppie, ein Penner oder eine Hure.
Doch sie bekam diese Freiheiten nicht. Stattdessen fuhren Henry und ihre Mutter im August mit ihr die vier Stunden zur University of Idaho in dem Städtchen Moscow, Idaho,
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