Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
wo sie sich fürs Herbstsemester einschrieb. Auf der Rückfahrt wiederholte Henry gebetsmühlenartig: »Glaub mir, ich weiß, was das Beste für dich ist.« Und: »Eines Tages wirst du mir dafür danken. Wenn du deinen Abschluss in Betriebswirtschaft hast, steigst du bei mir in die Firmenleitung ein.« Ihre Mutter warf ihr vor, »verwöhnt und unreif« zu sein.
Am nächsten Abend kletterte Delaney zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben aus ihrem Schlafzimmerfenster. Sie hätte Henry zwar um den Wagen bitten können, und er hätte
ihn ihr wahrscheinlich auch gegeben, aber sie wollte ihn um nichts bitten. Sie wollte ihren Eltern nicht sagen, wohin sie wollte, mit wem sie sich traf oder um welche Zeit sie wieder zu Hause wäre. Sie hatte nichts Festes vor, nur die vage Vorstellung, etwas unternehmen zu wollen, was sie noch nie gemacht hatte. Etwas, das man mit achtzehn tat. Etwas Gefährliches und Aufregendes.
Sie drehte ihr glattes, blondes Haar auf große, dicke Lockenwickler und zog sich ein pinkfarbenes Sommerkleid an, das vorne zugeknöpft war. Es reichte ihr bis knapp übers Knie und war das gewagteste Kleidungsstück, das sie besaß. Es hatte Spaghettiträger, und sie trug keinen BH darunter. Sie fand, dass sie darin älter wirkte. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Sie war die Tochter des Bürgermeisters, und da wussten sowieso alle, wie alt sie war. Sie lief den ganzen Weg in Huarache-Sandalen in die Stadt und trug ihre weiße Strickjacke in der Hand. Es war ein lauer Samstagabend, und irgendwo musste einfach was los sein. Etwas, das zu tun sie sich schon immer gefürchtet hatte, vor lauter Panik, ertappt zu werden und Henry zu enttäuschen.
Dieses Etwas fand sie vor dem Hollywood-Market, dem Supermarkt in der Fifth Street, wo sie haltmachte, um Lisa von einem Münztelefon aus anzurufen. Sie stand unter dem schwachen Licht, das an der Fassade des Backsteinbaus angebracht war. »Komm schon«, flehte sie in den Hörer. »Triff dich mit mir.«
»Ich hab dir doch gesagt, ich fühle mich, als würde mir gleich der Kopf platzen«, jammerte Lisa, die an einer Sommergrippe erkrankt war und Mitleid erregend klang.
Delaney starrte auf die metallenen Ziffern auf dem Telefongehäuse und runzelte die Stirn. Wie konnte sie mutterseelenallein rebellieren? »Stell dich nicht so an.«
»Ich stell mich nicht an«, verteidigte sich Lisa. »Ich bin echt krank.«
Delaney seufzte und schaute auf, als sie auf zwei Jungs aufmerksam wurde, die über den Parkplatz auf sie zuschlenderten. »O, mein Gott.« Sie hängte sich ihre Strickjacke über den Arm und schirmte die Sprechmuschel mit der Hand ab. »Die Finley-Jungs steuern geradewegs auf mich zu.« Es gab nur noch ein Brüderpaar, dessen Ruf schlimmer war als der von Scooter und Wes Finley. Die Finleys waren achtzehn und zwanzig und hatten gerade die Highschool abgeschlossen.
»Vermeide jeden Blickkontakt«, hatte Lisa sie noch gewarnt, bevor sie einen Hustenanfall bekam.
»Hallo, Delaney Shaw«, schleimte Scooter und lehnte sich mit der Schulter neben sie an die Mauer. »Was machst du hier so ganz allein?«
Sie sah in seine blassblauen Augen. »Ich will Spaß.«
»Haha«, lachte er. »Steht direkt vor dir.«
Wie die Finleys hatte Delaney die Lincoln High besucht und fand die beiden in Maßen amüsant und leicht beschränkt. Immerhin hatten sie ab und zu den Schulalltag aufgelockert, indem sie falschen Feueralarm auslösten oder sich die Hosen runterzogen, um ihre kalkweißen Ärsche zu zeigen. Im Nackten-Hintern-Rausstrecken waren die Finleys unschlagbar. »Woran dachtest du denn, Scooter?«
»Delaney, Delaney«, rief Lisa panisch in den Hörer. »Lauf weg. Lauf vor den Finleys weg, so schnell du kannst!«
»Ein Bierchen trinken«, antwortete Wes für seinen Bruder. »Und uns eine Party suchen.«
Mit den Finleys »ein Bierchen trinken« war mit Sicherheit etwas, das sie noch nie gemacht hatte. »Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte sie zu Lisa.
»Delaney …«
»Wenn sie meine Leiche im See finden, sag der Polizei, dass ich zuletzt in Begleitung der Finleys gesehen wurde.« Als sie einhängte, kam ein alter Ford Mustang Cabrio mit Rostflecken und einem noch rostigeren Auspuff auf den Parkplatz gefahren, dessen Doppelscheinwerfer Delaney und ihre neuen Freunde anstrahlten. Die Lichter und der Motor gingen aus, die Tür schwang auf, und heraus stieg ein 1,88-Meter-Mann mit ablehnender Grundhaltung. Nick Allegrezza trug ein Tequila-King-T-Shirt, das er
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