Kultur 08: Der Algebraist
Hatherence unter dem Vorwand entschuldigt,
sein menschliches Gehirn und sein Körper brauchten Schlaf, und
sein Pfeilschiff müsse Reparaturarbeiten ausführen und
Energien aufladen, und sich in den langen Speichenraum in Y’suls
Haus zurückgezogen, den man ihn zugewiesen hatte. Es war eher
ein dunkler, staubiger Gang, in dem stapelweise abgelegte Kleider
herumlagen. An den Wänden standen uralte Schränke, und der
Fußboden war übersät mit Gemälden und
zerknitterten Wandbehängen, die niemand mehr haben wollte.
Allerdings waren auch eine Doppelbettgrube für Dweller und eine
mit Baumschaum ausgekleidete Garderobennische vorhanden, so dass man
von einem Schlafzimmer sprechen konnte. Nicht dass Fassin oder sein
Gasschiff so etwas gebraucht hätten.
Fassin hatte die Tür geschlossen und mit den Akustiksinnen
seines kleinen Pfeilschiffs ein abnehmbares Deckenpaneel ausfindig
gemacht. Dann war er durch das Doppeldach in die windige und relativ
dunkle Nacht hinausgeschwebt.
Wie alle Dweller-Städte lag Hauskip in einer der historisch
ruhigen Stellen innerhalb seines Atmosphäreabschnitts, dennoch
herrschte in den Städten so etwas wie Wetter. Es gab
Druckunterschiede, Böen, Nebel, Regen, Schnee, Winde von allen
Seiten, steigende und fallende Luftströmungen, seitlich wirkende
und Drehkräfte, je nach der Beschaffenheit des Gasstroms.
Durchgeschüttelt von mäßig starken Winden, halb
verborgen von dickeren Gasfetzen, die durch den Schein der
Nachtbeleuchtung jagten, war Fassin über die schimmernden
Dächer geflogen.
Der Verkehr war nicht allzu dicht gewesen – zumeist bewegte
er sich innerhalb der Stäbe und Speichen, mit denen die
Hauptkomponenten der Stadt verbunden waren – aber in der Ferne
rotterten ein paar Dweller, und es waren so viele kleine Schiffe
– meistens Paketzulieferer – unterwegs, dass Fassin gute
Chancen hatte, nicht aufzufallen.
Tief unten flackerten Blitze auf.
Fassin hatte ein zentimeterdickes Wellenleiterkabel gefunden und
war ihm zu einem verlassenen öffentlichen Platz gefolgt, der wie
eine riesige leere Schüssel unter der matten
Straßenbeleuchtung lag. Dort hatte er eine öffentliche
Bildschirmzelle gefunden.
Setstyin befand sich ebenfalls im Äquatorialband, aber auf
der anderen Seite des Planeten. Vielleicht hatte Fassin deshalb
gehofft, er wäre um diese Zeit wach, aber Setstyin hatte am
Abend zuvor eine besonders rauschende Party gegeben und schlief sich
nun aus. Dweller konnten viele Tage ununterbrochen wach bleiben, aber
wenn sie schliefen, nahmen sie sich dafür ausreichend Zeit.
Fassin hatte Setstyins Diener geradezu beschworen, seinen Herrn zu
wecken, und auch dann hatte es eine Weile gedauert, bis Setstyin an
den Apparat kam. Er sah angeschlagen aus und seine Stimme klang
belegt, aber irgendwo in den Tiefen seines Innern war er offenbar
doch wach.
»Und was soll ich denn nun deiner Meinung nach tun?«,
fragte Setstyin und kratzte sich mit einem Randärmchen die
Kiemenfransen. Er trug einen leichten Schlafkragen um die Mittelnabe,
das Minimum, um den Anstand zu wahren, wenn man mit jemandem
telefonierte, der weder ein enger Freund, noch ein Verwandter war.
Dweller stellten ganz unbefangen ihre Mundpartien und die Lustorgane
an der Inneren Nabe zur Schau, aber besonders im Umgang mit einem
Alien war man auf Schicklichkeit bedacht. »Mit wem soll ich
reden, Fassin, und was soll ich sagen?«
Ein Windstoß schüttelte das Pfeilschiff, die
Flügelräder schnurrten, um es an Ort und Stelle zu halten,
während Fassin in die Kamera schaute. »Geh so weit nach
oben wie möglich, und überzeuge möglichst viele
Personen möglichst diskret davon, dass tatsächlich eine
Gefahr besteht. Lass den Leuten Zeit zu entscheiden, wie sie sich
verhalten wollen, wenn es zu einem Angriff kommt. Es könnte
ratsam sein, ihn einfach geschehen zu lassen. Keinesfalls angebracht
wäre es, einen unüberlegten Gegenschlag zu führen und
damit irgendeinen geisteskranken ›Schnellen‹ zu
provozieren, Atombomben auf eine oder mehrere Städte zu werfen,
nur um euch eine Lektion zu erteilen.«
Setstyin schien verwirrt. »Und wem würde das
nützen?«
»Bitte vertrau mir einfach –
›Schnellen‹-Spezies sind imstande, so etwas zu
tun.«
»Du möchtest also, dass ich mit Politikern und
Vertretern des Militärs rede?«
»Richtig.« Politiker und Militärs waren in der
Dweller-Gesellschaft ebenso Amateure und Dilettanten wie begabte
Schneider oder begeisterte Party-Geber wie Setstyin – wenn
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