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Kunst des Feldspiels

Kunst des Feldspiels

Titel: Kunst des Feldspiels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Harbach
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er
überhaupt noch nie ein solches Mitgefühl für irgendjemanden empfunden hatte.
Niemand war frei von Zweifeln und Schwächen, der arme Henry aber musste sich
den seinen öffentlich und zu festen Zeiten stellen, während die eine Hälfte der
Menge ängstlich auf ihn zählte und die andere ihm lauthals Pech wünschte. Wie
bei einem Theaterschauspieler war sein innerer Kampf für alle offen sichtbar. Ganz
anders als ein Theaterschauspieler allerdings konnte er nicht einfach nach
Hause gehen und jemand anders sein. Henrys Ringen mit sich selbst war derart
brutal, dass es einem wie eine Verletzung seiner Privatsphäre vorkam, wenn man
zu einem Spiel ging, und in den schlimmsten Momenten hatte Affenlight ein
schlechtes Gewissen, weil er dort war, und fragte sich, ob Zuschauer überhaupt
zugelassen sein sollten.
    Affenlight öffnete den
Spielplan. Das Wort HEIMSPIEL war jeweils in fetten Kapitälchen gesetzt, »Auswärtsspiel« normal geschrieben.
Er hoffte, ein HEIMSPIEL zu finden, das heute stattfand, eines, das er bisher übersehen hatte, denn das
würde Owens Abwesenheit erklären, die ansonsten unerklärlich wäre, und
Affenlight könnte zum Feld hinübereilen und für ein paar Innings dabei sein.
Aber es war der letzte Tag im April, und der war überhaupt nicht aufgelistet.
Affenlight faltete den Plan zusammen und stopfte ihn wieder in die Schublade.
    Irgendetwas war gestern
geschehen. Zumindest machte es im Nachhinein den Eindruck. In der Situation war
ihm nichts außergewöhnlich vorgekommen, ganz sicher war sie kein Wendepunkt
gewesen – bloß einer dieser Momente, in denen man dazu gezwungen war, sich
einzugestehen, dass man weder geisteskrank noch völlig fanatisch war, dass man
selbst und der Liebste zwei verschiedene Personen waren, deren Ansichten sich
von Zeit zu Zeit unterschieden. Aber vielleicht ging es darüber hinaus,
vielleicht hatte Affenlight sich bitter getäuscht, denn auf seiner Armbanduhr
war es 16.49 Uhr, laut der,
die an der Wand hing, 16.47 Uhr, und Owen
war noch immer nicht da.
    Owen hatte gestern die
langen Reihen von Registerbänden des Westish College entdeckt, die sich über
die volle Länge des untersten Regals hinter dem Zweiersofa erstreckten. Sie
waren chronologisch geordnet, und die marineblauen Buchrücken waren zunehmend
weniger verblichen, während die Strahlkraft der goldgeprägten Buchstaben immer
weiter zunahm, wenn man die Reihe von links nach rechts betrachtete. Die
Registerbände waren für Affenlight wie Möbel – seit seinen ersten nostalgischen
Tagen als Präsident vor beinahe acht Jahren war er nicht auf die Idee gekommen,
einen Blick hineinzuwerfen. Bis Owen nun, faul auf dem Sofa ausgestreckt,
während Affenlight eine Gesprächsnotiz zu Ende schrieb, den mit ’ 69 –’ 70 beschrifteten Band herauszog und zu dem halbseitigen Foto eines großgewachsenen
jungen Mannes blätterte, der ein Fahrrad über den Campus schob. Die Schultern
des jungen Mannes waren breit. Er trug eine graue Wollbundfaltenhose und ein
Hemd mit breitem Kragen, dessen Ärmel merklich sorgfältig aufgerollt waren; das
einzige Anzeichen für Rebellion war seine Frisur, eine regelrecht löwenartige,
etwa schulterlange Mähne nämlich, die sich ziemlich deutlich von dem
Bürstenhaarschnitt unterschied, den er zwei Jahre lang auf Anordnung von Coach
Gramsci hatte tragen müssen. Auf dem Boden lag Herbstlaub, dessen kräftiges
Rascheln man beim Betrachten des Fotos beinahe zu hören glaubte, während der
junge Mann sein Fahrrad einen Pfad entlangschob, keine fünfzig Meter von dort
entfernt, wo sie gerade saßen. Der junge Mann lächelte nicht, aber er wirkte
ziemlich zufrieden darüber, frei zu haben, an einem Herbstnachmittag einmal
nicht zum Footballtraining zu müssen. Einen Bart hatte er sich noch nicht stehen
lassen.
    »Hallöchen«, sagte
Owen. »Wer ist das denn?«
    »Haha.« Affenlight wand
sich in seinem Stuhl. Er bemerkte, dass Owen einen anderen von Mrs.
McCallisters Kaffeebechern benutzte: ORGANE LASSE
HIER AUF ERDEN – BEI GOTT KANNST OHNE GLÜCKLICH WERDEN. »Was ist denn aus KÜSS MICH, ICH BIN IRE geworden?«, fragte er, darauf bedacht, möglichst gleichgültig zu
klingen.
    Owen hob den Blick von
dem Foto, sein Gesichtsausdruck war nicht unfreundlich. »Ich hab mir einfach
den hier genommen«, sagte er. »Ich spül ihn, wenn ich fertig bin.«
    »Nein, nein. Nicht
nötig«, sagte Affenlight. »Es schien bloß, als hättest du eine Vorliebe für den IRE -Becher

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