Kunstgriff
quer durch die Innenstadt in die Taunusstraße gefahren. Der unscheinbare Polo passte bestens zu Mieke, meinte sie. Allmählich fand sie Spaß an der Rolle. Als Mieke gab sie sich neugierig und mit einer gutmütigen Naivität gesegnet. Beim Sozialarbeiter Daniel weckte sie damit den Beschützerinstinkt. Er hatte am vergangenen Abend für sie gekocht und sie während des Essens eindringlich davor gewarnt, sich von der arroganten Galeristenzicke ausbeuten zu lassen.
Nina und Rico blieben auf Distanz. Sie schienen zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ein größeres Interesse für Marcos Stellvertreterin aufzubringen. Wenn Norma die Küche betrat, zogen sich beide umgehend in ihre Zimmer zurück. Da Undine ihre Tochter nicht auf den abhanden gekommenen Jawlensky angesprochen hatte, wusste offiziell niemand darüber Beschied, und der Diebstahl war selbstverständlich kein Thema. Norma brannte darauf zu erfahren, warum das junge Paar so angespannt wirkte – weit mehr als gewöhnlich, wie Daniel bestätigte, der die Unruhe auf die Streitereien mit dem Bruder zurückführte. Eine kritische Bemerkung oder provozierende Geste genügte, um einen Krach anzufachen, der sich jedes Mal zu einer Auseinandersetzung um das Haus entwickelte, bis einer der Brüder Türen schlagend aus der Wohnung stürmte. Norma hätte unter dieser vergifteten Atmosphäre gelitten. Mieke dagegen, unbedarft und ohne Vergangenheit, nahm alles, wie es kam, tat aber gut daran, sich die besonnene Privatdetektivin an die Seite zu rufen, als sie sich heimlich in den Zimmern umschaute. Sie hatte sich in Geduld üben und Undine vertrösten müssen, bis sich am Freitagabend endlich die Gelegenheit dazu ergab.
Daniel verabschiedete sich nach dem Abendessen zum Dienst. Extra für Mieke (das hatte sie mit Norma gemeinsam) kochte er vegetarisch: Ein leckeres Risotto, auf indische Art scharf gewürzt. Nina und Rico waren frühzeitig in ihren Zimmern verschwunden, um sich für eine Partynacht vorzubereiten. Bei dem Aufwand, den sie dafür betrieben, und gemessen am Ergebnis der Bemühungen, war nicht damit zu rechnen, dass sie die Unternehmung vorzeitig abbrechen und vor den Morgenstunden zurückkehren würden. Aus der Küche beobachtete Norma, wie beide vor dem Spiegel im Flur gegenseitig letzte Hand anlegten. Nina hatte ein gewagt knappes Kleid angezogen, das ihr verflucht gut stand, und die Haare im Stil der Amy Winehouse hoch über den Kopf gebauscht. Auch hinsichtlich des düsteren Make-ups schien sie vom berühmten Vorbild inspiriert. Rico trug eine schwarze Lederjeans zum strahlend weißen Hemd und brauchte eine kleine Ewigkeit, um die Fönfrisur in Form zu bringen, bis sie endlich eng umschlungen und grußlos aufbrachen.
In aller Ruhe räumte Norma die Spülmaschine ein, füllte den Rest des Abendessens in eine Schüssel und schrubbte den Topf blank. Ermutigt durch den Rheingauer Riesling, einem prickelnden Winkeler Hasensprung, den sie zum Essen spendiert hatte, lauschte sie an der Eingangstür. Im Treppenhaus war es still. Nicht einmal der rote Kater maunzte. Sie hatte es aufgeben, in ihm wie in Leopold einen Freund zu gewinnen. Jede Annäherung beantwortete das Tier mit einem warnenden Fauchen und zeigte deutlich, was es von den Menschen hielt.
Ninas Zimmertür war abgesperrt. Norma holte ihr Einbruchswerkzeug, das sie zusammen mit dem Notebook im Schreibtisch aufbewahrte. Ihre praktische Übung damit hielt sich in Grenzen. Zum Glück verlangte das Türschloss keine Kunstfertigkeit. Mehr Geduld brauchte sie für den Raum selbst, der überfüllt und unübersichtlich wirkte. Die Tür des Kleiderschranks stand weit offen, und auf dem Bett und dem einzigen Sessel türmten sich Hosen und Röcke in allen Längen und Shirts und Blusen in allen Farben: Stumme Zeugen einer langwierigen Entscheidungsfindung.
Sie begann dort mit der Suche, wo sich ein Gemälde von etwa 40 x 50 Zentimeter verstecken ließe: unter dem Bett, hinter dem Kleiderschrank, im Schrank. Nichts. Danach durchstöberte sie das Zimmer nach noch so unscheinbaren Indizien. Zwischendurch flitzte sie zur Wohnungstür und lauschte ins Treppenhaus hinein. Der Einbruch war vergebens. Weiter in Ricos Zimmer! Anders als die Freundin legte er Wert auf Ordnung. Auffällig war die Menge an Medikamenten. Eine Reihe von Pillenschachteln und -dosen lagerte auf dem Wandbord, und ein Sortiment befand sich auf dem Nachttisch. Dass er eine weitere Pillensammlung in einer Metallschachtel unter dem Bett
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