Kunstgriff
im Job um verlorene Seelen.«
Norma trank einen Schluck. Durch die heiße Milch schmeckte man den starken Kaffee. »Will man danach nicht seine Ruhe? Warum wohnst du in einer WG?«
»Neugierig bist du gar nicht.« Verstimmt setzte er die Tasse an.
Bei näherer Betrachtung entpuppte sich das Ruderboot als Käfer. Mit sechs Beinen und zwei spitzen Zangenarmen. Was trieb einen Menschen dazu, sich ein Kerbtier in den Hals ritzen zu lassen? Sie wandte den Blick ab. »Ich wüsste nur gern, mit wem ich hier zusammenlebe.«
»Was soll ich allein mit einer ganzen Wohnung? Mir genügt mein Zimmer. Und meinen Bruder habe ich gern in meiner Nähe.« Den letzten Satz unterstrich ein mehrdeutiges Lächeln.
Norma wagte einen zweiten Anlauf. »Und Nina und Rico? Was arbeiten die beiden?«
Er ließ sich auf die Frage ein. »Nina lernt Verkäuferin. In einer Boutique, die gehört der Freundin ihrer Mutter. Sonst wäre sie längst rausgeflogen. Man kann nicht behaupten, dass sie die Ausbildung ernst nimmt. Sie fühlt sich zu Höherem berufen. Modeschule. Paris. Etwas in der Richtung. Oder besser gleich in die weite Welt. Als würde man dort auf sie warten.«
»Und Rico?«
»Wir liegen uns ständig in den Haaren, so ist das unter Brüdern. Der Junge hat Biss, das muss ich zugeben. Wie ehrgeizig er seinen Sport angeht! Er betreibt Triathlon. Eine Schinderei, sag ich dir.«
Er ließ sich ausgiebig über alle Facetten dieser Sportart aus, die er – wie er freimütig einräumte – nur aus der Perspektive des Zuschauers kannte. Norma hatte bei den Wiesbadener Wettbewerben zugesehen und war voller Anerkennung für die Leistungen der Sportler. Daniel meinte, zwar hin und wieder Kraftsport zu betreiben, es aber mit dem Laufen nicht so zu haben, wie sie gern glauben wollte.
»Kann Rico von seinem Sport leben?«
»Mehr schlecht als recht. Er hangelt sich von einem Wettbewerb zum anderen. Trotzdem müssen es immer die neusten Klamotten sein. Dafür nimmt er fast jeden Job an, den er kriegen kann.«
Marco kam herein und verkündete, er habe noch einiges mit Daniel zu besprechen. Norma bedankte sich für den Kaffee und ging in ihr Heim auf Zeit. Sie fühlte sich ein wenig verloren. War es richtig, sich hier einzuschleichen, um Nina und Rico zu belauern? Ein spontaner Einfall, der bei Undine auf fruchtbaren Boden gefallen war. Sie räumte ihre Sachen in den Kleiderschrank und schloss das Notebook in einer Schreibtischschublade ein.
Als sie in die Küche zurückkehrte, war Marco gegangen. Stattdessen saßen ein Mädchen und ein junger Mann bei Daniel am Tisch und musterten sie mit einer Allianz aus Neugierde und Ablehnung. Nach einem kurzen zähen Wortwechsel verließ sie die Küche. Sie konnte es noch rechtzeitig zur Yogastunde schaffen. Schnell zog sie sich um, nahm die Yogamatte und ging aus dem Haus.
10
Samstag, der 14. Juni
Den späten Samstagnachmittag verbrachte sie in Arthurs Wohnung. Der Makler hatte einen Interessenten angekündigt. Nachdenklich schlenderte sie durch die nackten Zimmer, die ihr fremd und abweisend erschienen. An die Aquarelle und Gemälde erinnerten nur noch die zarten Schatten auf den Wänden. Mit dem Inventar hatte sich alle Vertrautheit davongestohlen. In Arthurs früherem Arbeitszimmer zeichneten die Fenstersprossen ein verzerrtes Kreuz auf das Parkett. Als könnte sie über den Querbalken stolpern, stieg sie darüber hinweg und zog die Flügel auf. Auch draußen war die Luft stickig. Ein Gewitter kündigte sich an. Unten auf der Taunusstraße bemühte sich ein Lastwagenfahrer, ein Taxi aus einer Ausfahrt herauszuhupen. In das Getöse mischte sich das arbeitswillige Gurgeln der Kaffeemaschine, die sie sich ebenso wie Becher, Milch und Kaffeepulver von Josef Brunner ausgeborgt und auf die Fensterbank gestellt hatte. Er hatte ihr außerdem mit einem Klapptisch und Stuhl ausgeholfen und beides im Erker aufgebaut. Gerade als er den Laden schließen und sich in die Werkstatt begeben wollte, die wenige Schritte entfernt in der Nerostraße lag, hatte Norma an die Hintertür geklopft.
Josef stellte keine Fragen, doch sie hätte ihm sowieso nicht erklären können, dass Rico an den Samstagnachmittagen in einem Biebricher Studio trainierte und seine Radstrecke unmittelbar an ihrem Büro vorbeiführte. Hier konnte sie mit dem Notebook arbeiten und im Internet stöbern, während sie auf den Makler wartete. Wie man es von der Assistentin erwartete, war sie bis 16 Uhr in der Galerie geblieben und anschließend
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