Kunstgriff
hätte verhindert werden können, führten zu nichts. Für ihn zählten die Angehörigen, denen sich eine Spur Genugtuung bot, wenn sie den Täter hinter Gittern wussten, und der Täter selbst, der bestraft und aus dem Verkehr gezogen werden musste. Kein Tötungsdelikt war wie das andere, und keines ließ ihn unberührt. Doch bei allem hatte er die größere Chance, die Tat aufzuklären, wenn er sich von Emotionen freimachte. Wenn er mit kühlem Kopf an die Aufklärung heranging, die Fakten sammelte und zusammentrug und immer wieder aufs Neue verknüpfte wie bei einer komplizierten mathematischen Aufgabe.
Er klemmte das Nachtglas in eine Astgabel, sodass es nicht abrutschen konnte, stärkte sich mit einem Schluck Bier und streifte die Weste ab, auf die er der drückenden Schwüle zum Trotz nicht hatte verzichten wollen. Allein im kurzärmligen Hemd wäre er sich unangezogen vorgekommen. Außerdem steckte in der Westentasche das Bestimmungsbuch für Fledermäuse, obwohl er es nur noch selten zu Rate ziehen musste. Auch das Notizbuch hatte er bei sich. Viele Kollegen waren auf ein Notebook umgestiegen. Wolfert konnte die Gedanken am besten ordnen, wenn er sie von Hand niederschrieb, und benutzte dafür stets einen Bleistift, der anders als ein Kugelschreiber nie den Dienst versagte, sofern man ein Taschenmesser zum Anspitzen parat hielt. Zudem ließ sich die Schrift ausradieren, wenn neue Erkenntnisse eine Korrektur erforderten. Mit jedem Fall begann er ein neues Heft, das nach Abschluss der Ermittlungen die kleine Reihe im Wohnzimmerschrank ergänzte. Die Notizen dienten ihm zudem als Gedächtnisstütze für die seitenlangen Berichte, die er für die offiziellen Fallakten verfassen musste. Polizeiarbeit hieß vor allem Schreibarbeit.
Konzentriert blätterte er in seinen persönlichen Anmerkungen zum Fall ›Bogenschütze‹. Seit er zum Tatort gerufen worden war, beschäftigte ihn das Verbrechen sogar in den wenigen freien Stunden. Er hatte in seinem Berufsleben viele Mordwaffen gesehen: Von der Axt über alle Arten von Schusswaffen bis hin zu einem Zaunpfosten, der einem Mann im Streit in den Leib gerammt worden war und eine tödliche Wunde zurückgelassen hatte. Ein Tötungsdelikt mit Pfeil und Bogen gehörte zweifellos zu den bizarren Vorkommnissen. Die bisherigen – ernüchternd dürftigen – Erkenntnisse ließen den Spekulationen freien Lauf. Dazu gehörte die am Rande diskutierte Frage, ob es überhaupt Mord war oder nicht vielleicht eine zufällige Tötung. Ein Unfall. Wie die meisten Kollegen fand auch Wolfert mittlerweile die Vorstellung, ein Wilderer streife durch den Wald und treffe aus Versehen einen Spaziergänger mitten ins Herz, im höchsten Maße absurd. Zudem die Nachfragen bei den Jagdpächtern und Förstern keinerlei Hinweise auf einen mit Pfeil und Bogen jagenden heimlichen Jäger ergeben hatten.
Die wenigen Kollegen, die die Unfalltheorie befürworteten, führten den Tatort als Argument ins Feld. Das Jagdschloss Platte sei als viel besuchter Startplatz für Wanderer und Jogger nicht die erste Wahl für einen Mord. Ein Argument, das sich ins Gegenteil umkehren ließ, meinte Wolfert und stand damit nicht allein. Metten fuhr regelmäßig vor Dienstbeginn zum Laufen hinauf zur Platte. Der Täter konnte ihm auf dem Parkplatz auflauern und sich die frühe Stunde zunutze machen, in der weniger los war – zumal bei dem Sauwetter an jenem Morgen. Im Lauf des Tages wäre Mettens Wagen nicht weiter aufgefallen, weshalb der Mörder darauf verzichten konnte, ihn wegzuschaffen. Er vertraute darauf, dass der Tote vorerst unentdeckt bliebe, und hatte eine Reiterin nicht in die Planung eingeschlossen. Ansonsten war seine Rechnung aufgegangen. Nicht einer der Zeugen, die sich zur Tatzeit in der Nähe aufgehalten hatten und den Aufrufen in den Tageszeitungen folgten, hatte etwas Verdächtiges melden können.
Was für eine Hitze, die durstig machte! Hoch über dem Pavillon sammelten sich die Gewitterwolken. Bislang donnerte es nicht. Er hob das Bierglas und nahm einen genussvollen Schluck, bevor er nachdenklich weiterblätterte. Solange die Zeugenaussagen nichts einbrachten, musste man sich eben verstärkt auf das Opfer besinnen. Und dort fand sich eine Reihe von Ansatzpunkten. Zwar war Pitt Metten weder vorbestraft noch aktenkundig, aber was hieß das bei einem Mann, dessen finanzielle Situation – wie Milano es nannte – unübersichtlich war? Dass Mettens Vermögen weit höher lag als sein Gehalt erwarten
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