Kunstgriff
die er hinterlassen hat, nicht zu reden.«
Offensichtlich endete die Großherzigkeit vor den eigenen vier Wänden.
»Mieke hat Arbeit«, warf Marco ein. »Sie übernimmt meinen Job in der Galerie, solange ich weg bin.«
»Ich werde meinen Kram sofort forträumen und den Putzplan einhalten«, versprach Norma und zog zwei Fünfziger aus der Geldbörse. »Hier, mein Anteil für die Gemeinschaftskasse. Sind 100 Euro fürs Erste in Ordnung?«
Nach gebotenem Zögern streckte der Glatzkopf die Pranke aus und nahm das Geld entgegen. »Willkommen in unserer kleinen Gemeinschaft. Kaffee?«
»Warum nicht?«
Er führte sie in die Küche, die dank des Erkers sonnig und überraschend komfortabel eingerichtet war. Die Kiefernholzmöbel glänzten wie frisch gewachst. Zum Biedermeiersofa im Erkerfenster gesellten sich ein ovaler Tisch und stabile Holzstühle.
Norma entschied sich für das Sofa, das fest und hoch gepolstert war, sodass ihre Zehenspitzen gerade so den Fliesenboden erreichten. »Das ist die hübscheste und aufgeräumteste WG-Küche, die ich je gesehen habe.«
Daniel hantierte an der Kaffeemaschine und wandte sich mit einem Grinsen um. »Sei vorsichtig, was du sagst! Ich bin wie der Teufel hinter der Unordnung her.«
Eine Antwort, die man auf gewisse Weise wörtlich nehmen sollte?, überlegte Norma, die nicht wusste, was sie von diesem schwergewichtigen und ordnungsliebenden Punker halten sollte. Seine körperliche Präsenz erinnerte an Milano, wenn auch ohne dessen Ruppigkeit, und ließ eine unterschwellige Aggressivität anklingen. Gepaart mit einer erstaunlichen Behutsamkeit, mit der er zwei randvolle Milchkaffeetassen auf dem Tisch abstellte.
Daniel ließ sich auf einem Polsterstuhl nieder. »Wie viele WGs hast du denn schon erlebt?«
Norma nahm die Tasse entgegen. »Genug, um zu wissen, worauf es ankommt.«
»Was ist deiner Meinung nach wichtig?«
Sie naschte vom Milchschaum. »Rücksichtnahme natürlich. Und dazu die Bereitschaft zum Kompromiss. Es könnte nicht schaden, wenn ich mehr über die anderen wüsste. Erzählst du mir ein wenig über euch?«
Er wirkte verwundert. »Ich dachte, du kennst Nina und Rico.«
»Wie kommst du darauf?«
»Na, du arbeitest doch in der Galerie, die Ninas Mutter gehört.«
»Ach deswegen!« Sie leckte den Löffel ab und lächelte. »Der Job hat sich spontan ergeben. Morgen ist mein erster Tag.«
Er betrachtete sie nachdenklich. »Hör zu, ich will keinen Ärger! Falls dein Typ auftaucht und das Mobiliar kurz und klein schlägt …«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich bin nicht auf der Flucht vor einem Kerl.«
Die Antwort beruhigte ihn nicht. »Oder hältst du dich vor der Polizei versteckt?«
»Wäre das ein Problem für dich?«
»Und ob! Die Behörden haben sowieso permanent ein Auge auf die Kids in meinem Haus. Alle Nase lang beschwert sich ein Nachbar, der aus Prinzip gegen das Projekt ist.«
Norma legte den Löffel zurück. »Marco hat mir erzählt, dass du die Straßenkinder umsonst hier wohnen lässt.«
Er reckte die kräftigen Schultern. »Arme Teufel, die Hilfe brauchen, sofern sie sich helfen lassen wollen. Das Jugendamt ist nicht mehr zuständig, aber im Herzen sind sie noch Kinder. Ich biete ihnen einen Platz zum Schlafen, etwas zum Essen, und was ich sonst tun kann.«
»Warum machst du das?«
»Das werde ich oft gefragt. Ich habe viele Antworten darauf, und keine überzeugt mich wirklich. Ich weiß nur, dass ich mir immer schon gewünscht habe, einmal ein offenes Haus zu besitzen. Durch das Erbe konnte ich mir diesen Traum erfüllen. Und damit das so bleibt, halte ich die Wohnungen sauber.«
»Ich habe nichts auf dem Kerbholz. Mach dir meinetwegen keine Gedanken. Ich brauche nur etwas Abstand vom Alltag. Das ist alles.«
Sein Blick blieb skeptisch. »Mieke Lienhop. So richtig hessisch klingt das nicht.«
Norma lachte. »Kein Wunder, ich stamme aus Niedersachsen, aus einem winzigen Nest an der Weser.«
Eine Antwort, die ihr leicht fiel, weil sie der Wahrheit entsprach. Selbst das Pseudonym war keine Erfindung, sondern eine Verknappung des vollständigen Namens: Norma Mieke Tann, geborene Lienhop. In den Zeitungsartikeln über den Prozess gegen den Weinfestmörder waren der Name der Zeugin Norma Tann und deren Beruf mehrfach genannt worden.
»Darf ich fragen, was du machst, wenn du nicht als Samariter tätig bist? Beruflich, meine ich.«
Er schmunzelte. »Kaum etwas anderes als hier im Haus. Ich bin Sozialarbeiter und kümmere mich auch
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