Kunstgriff
dem los? So etwas hätte er früher nicht gesagt. Sie schaffte ein dünnes Lächeln, trank einen Schluck und stemmte sich hoch. »Ich muss an die Luft!«
Er begleitete sie ins Freie und unternahm den Versuch, sie zu stützen, was sie nicht zuließ.
»Geh nur an deine Arbeit«, bat sie, als sie im Hof auf den Wagen wartete, der sie und Sema zum Stadtwald bringen sollte. Ihr war bewusst, dass sie ihm von der Verbindung zwischen Rico und Metten erzählen müsste, brachte die Energie dafür aber nicht auf.
Die Augen hinter den Brillengläsern verschwammen zu blassblauen Scheiben. »Bist du überhaupt in der Lage, mit den Kollegen rauszufahren?«
»Das geht schon wieder. Mach dir keine Gedanken, Dirk.«
»Wird das niemals besser?«
Sie war ihm die Antwort schuldig geblieben. Was hätte sie auch sagen sollen? Die alten Kollegen waren ihr so herzlich begegnet, und es gab keinen Grund für das erneute Versagen. Sie schämte sich für die Angstzustände, die sich unberechenbar verhielten und ihr keine Erklärung dafür lieferten, warum sie sich an manchen Abenden unbeschwert in einer Weinstube aufhalten konnte, in der sich die Gäste um die Tische drängten, und an anderen Tagen kaum Lutz in ihrer Nähe ertrug. Kriminalhauptkommissarin Norma Tann hatte den Polizeidienst aufgrund ihrer psychischen Erkrankung aufgeben müssen, das war allgemein bekannt. Wolfert und Milano wussten zudem, dass sie durch die Entführung in Kolumbien aus der Bahn geworfen worden war, ohne die Einzelheiten zu kennen. Die Tage in Kolumbien bereiteten der Ehe mit Arthur und ihrem Leben als Polizistin das Ende. Sie ertrug keine Hierarchien mehr, keine Befehle und keine Bevormundungen. Letzteres, musste sie einräumen, war ihr von jeher schwer gefallen. Diese Erfahrungen hatten die Bedenken vor dem Prozess geschürt. Ihre Sorge, den Befragungen nicht standzuhalten, schien ihr durchaus berechtigt. Die Tage vor Gericht waren ihr wie eine Prüfung vorgekommen, eine Bewährungsprobe, und sie hatte so sehr gehofft, mit dem Prozess auch die Panikattacken hinter sich zu lassen. Der Rückfall im Kommissariat stach tief. Für einen Augenblick gab sie sich dem kindischen Wunsch hin, in Zukunft als Mieke Lienhop durchs Leben zu gehen. Als die naive Landpomeranze, die keine Angst vor gar nichts hatte und deren Seele ein unbeschriebenes Blatt war.
Mit ›Lienhop‹ meldete sie sich nun, als das Telefon klingelte. Ein Herr Dr. Regert wünschte die Galeristin Frau Abendstern zu sprechen.
»In welcher Angelegenheit?«, fragte Norma zuvorkommend.
»Es betrifft den russischen Expressionisten Alexej von Jawlensky.«
Norma sprang auf und winkte Undine heran, die wie alarmiert an den Schreibtisch stürmte.
»Die Entführer?«, flüsterte sie aufgeregt.
»Gut möglich«, raunte Norma. Das Display zeigte eine Handynummer an, die sie flink notierte. Sie drückte auf das Lautsprechersymbol und gab das Telefon weiter.
Undine schluckte und holte tief Luft. »Abendstern. Was kann ich für Sie tun?«
Es sei sein größter Wunsch, einen Jawlensky zu erwerben, verkündete der Anrufer, und Undine sollte ihm dabei behilflich sein.
»Wie kommen Sie auf mich?«, fragte sie misstrauisch.
»Sie wurden mir als fachkundig empfohlen. Ich habe gehört, dass Sie selbst einen Jawlensky besitzen. Ein Stillleben, sofern ich richtig informiert bin. Das ›Schweigende Rot‹. Ist das Bild vielleicht verkäuflich?«
Undine erblasste und warf einen hilflosen Blick auf Norma, die den Kopf schüttelte. Dr. Regert vermittelte nicht den Eindruck, als wollte er ein Lösegeld fordern. Ein harmloser Interessent.
Undines Nervosität legte sich. »Das ›Schweigende Rot‹ ist unverkäuflich. Dürfte ich Ihnen einen anderen Expressionisten vermitteln?«
»Ich bin in erster Linie an Jawlensky interessiert. Wie stehen meine Chancen, ein Bild zu erwerben?«
Ein reines Geschäftsgespräch also. Norma wandte sich dem Computer zu. Undine schaltete den Ton aus, sodass nur noch ihre Stimme zu hören war, deren berufsbedingte Höflichkeit sehr einnehmend klang. Ohne etwas zu versprechen, machte sie dem Kunden Hoffnungen auf einen lohnenden Kauf.
»Ein Mediziner«, erklärte sie, nachdem sie das Telefonat beendet hatte. »Ein freundlicher Mann, wirklich angenehm. Und er klingt nach Geld. Viel lieber wäre es mir allerdings, die Kidnapper würden sich endlich rühren. Das Warten zermürbt mich.« Sich sammelnd, schloss sie die perfekt geschminkten Lider und erklärte, als sie die Augen wieder
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