Kunstgriff
geholfen, als ich Sie um Hilfe bat. Warum sollte ich Ihnen einen Gefallen tun?«
Die Tür nebenan öffnete sich einen Spalt, wie Norma bemerkte. Sie wandte sich erneut Reisinger zu. »Sie stehen unter Mordverdacht. Da kann jedes Gespräch nützlich sein.«
Nach einem Blick in den Hausflur zog er die Tür auf und führte Norma an einem wuchtigen Metallschrank vorbei in das Wohnzimmer, in dem sie sich aufgrund der weißen Schrankwand, des gigantischen Plasma-Fernsehers und der belanglosen Kunstdrucke an den Wänden in einen Möbelprospekt versetzt fühlte. Wäscheberge wuchsen aus der knallroten Sitzgarnitur. Auf dem Couchtisch standen ein Kaffeebecher und ein Teller mit einem angebissenen Brötchen, daneben ein aufgeschlagener Katalog. Die Doppelseite zeigte ein Jagdgewehr, dessen gemaserter Holzschaft und aufwendig gravierten Metallteile Norma auf die Frage brachten, wer eine solche Kostbarkeit für die Jagd verwenden wollte. Unter den Seiten schaute ein Prospekt über Jagdreisen hervor. In Europa und anderswo.
»Haben Sie schon einmal außerhalb Deutschlands gejagt?«
»Was dagegen? Im Ausland kann die Jagd noch ein echtes Abenteuer sein. Das lasse ich mir nicht nehmen.« Abwartend belauerte er sie.
»Ich störe wohl beim Frühstück.«
Reisinger schlug den Katalog zu und schob ihn über den Reiseprospekt. »Ich will ins Revier. Fassen Sie sich kurz. Was wollen Sie?«
Sie fühlte sich unangenehm beäugt durch die eckige Brille, deren Bügel nach ihrem Geschmack deutlich zu blau und zu markant ausgefallen waren.
»Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Frau zurückkommt? Jetzt, da Metten tot ist.«
Er trat vor den Couchtisch und verschränkte die Arme. Die fleischigen Ellenbogen drückten sich gegen das Hemd. »Das geht Sie nichts an. Sagen Sie, was Sie wollen. Und dann verschwinden Sie!«
Sie reichte ihm ein Foto, das sie aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt hatte. »Haben Sie diesen Mann in der letzten Zeit vielleicht zusammen mit Pitt Metten gesehen? Er ist 24 Jahre alt. Blonde Haare bis zum Kinn. Mit ordentlich Gel drin. Trägt gern Schmuck.«
Er warf einen Blick auf den Ausdruck, wirkte plötzlich widerwillig interessiert. »Der Schönling ist mir vor ein paar Tagen aufgefallen. Er hat sich mit Pitt in einer Kneipe getroffen.«
»Sie sind Pitt also nachgegangen?«
»Was sollte ich sonst tun? Sie haben mich schließlich im Stich gelassen, Frau Tann!«
Wohl um sie loszuwerden, nannte er den Namen des Lokals und weitere Details. Pitt und Rico waren sich am Freitagabend begegnet; drei Tage vor dem Einbruch bei Undine.
»Gehen Sie jetzt!«
Norma bedankte sich. Vor der Tür wandte sie sich um. »Glauben Sie, dass die beiden sich zufällig getroffen haben?«
»Nee, wie das aussah, waren sie verabredet. Es war berstend voll in der Kneipe, zum Glück, sonst hätte Pitt mich vielleicht bemerkt. Wer ist der Mann, nach dem Sie fragen? Hat er mit dem Mord zu tun?« Der entwürdigende Verdacht laste schwer auf ihm, fügte er pathetisch hinzu.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Aber mich ausquetschen, was? Hauen Sie endlich ab!«
Nein, du tust mir bestimmt nicht leid, dachte sie, als sie zum Wagen zurückging.
Was er wohl so Dringendes im Wald vorhatte? Sie stieg in den Polo und wartete. Nach einer Viertelstunde erschien Reisinger, beladen mit einem Rucksack sowie einer Tasche von offensichtlichem Gewicht und packte beides in den Kofferraum eines Subaru. Er hatte sich umgezogen und trug eine Camouflagehose zum olivgrünen Hemd. Norma ließ den Motor an und scherte aus, um in einer Einfahrt zu wenden und die Verfolgung aufzunehmen. Die Fahrt ging bergab zurück zur Hauptstraße und auf die schmale ruhige Straße im Goldsteintal, auf der Norma den Abstand vergrößerte. Das offene Tal bot genügend Sicht, sodass sie seinen Weg zum Schützenhaus aus der Entfernung verfolgen konnte. Im Wald schloss sie gerade rechtzeitig wieder auf, als er in einen Weg abbog und der Wagen dicht am Straßengraben zum Halten kam. Norma trat auf die Bremse. Wenn er sich umschaute, würde er den kleinen Wagen entdecken. Aber Reisinger war mit dem Ausladen seines Gepäcks beschäftigt. Er schulterte den Rucksack, griff nach der Tasche und machte sich auf den Weg.
Norma folgte zu Fuß. Bald verließ Reisinger den Waldweg und schlug einen rutschigen Pfad ein, der sich in den Hang schmiegte. Unter ihren Schritten quatschte das Laub. Sie ließ Reisinger nicht aus dem Blick, dessen kräftige Arme im Rhythmus der strammen
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