Kunstgriff
Zeugen?«
Sie trank einen Schluck und stellte das Glas zurück. »Ungefähr tausend Autofahrer! Was soll das, Mieke? Du bist schlimmer als die Bullen. Ich dachte, wir leben in einem freien Land.«
»Also auch für ihn keine Zeugen«, erklärte Norma lakonisch. »Wo warst du am Sonntagabend?«
Nina reagierte mit einem genervten Blick zur Zimmerdecke. »Auf diesem Jammerkonzert von Marco, zusammen mit Rico. Das war so öde, die reinste Katzenmusik. Wir sind früher gegangen.«
»Wie gut kanntest du diesen Pitt?«
Nina zog sich den dritten Stuhl heran und warf mit Schwung die Füße darauf, die in schwarze Lackschuhe mit klobigen Absätzen gezwängt waren. »Ich habe ihn ein paar Mal in der Kneipe getroffen. Als er Rico trainiert hat, war ich noch bei meinem Vater in Amsterdam. Später war Pitt nicht mehr sein Trainer.«
»Warum nicht? Gab es Streit?«
Wieder das Achselzucken. »Keine Ahnung. Ich glaube, Pitt hat ganz als Trainer aufgehört. Das wurde ihm zu viel neben seinem Job. Der macht irgendwas mit Kontrollen.«
»Du bist stolz auf Rico, nicht wahr?«
»Klar doch! Er will wieder zum Ironman nach Hawaii, muss nur noch das Geld zusammenkriegen.«
Norma zeigte sich verwundert. »Ich dachte, er wird von der Sporthilfe unterstützt?«
»Schon. Die zahlen ihm was, auch die Sponsoren und so. Und er kriegt das bisschen Miete, was viel mehr sein könnte, wenn Daniel alle Wohnungen vermieten würde. Oder endlich auf Rico hören und das Haus verkaufen würde. Das Geld könnten wir gut gebrauchen!«
»Was habt ihr damit vor?«
Nina lächelte verträumt. »Ich will mit nach Hawaii. Nach dem Wettkampf wollen wir reisen. Südsee. Karibik. Amerika und so. Am liebsten für immer.«
»Dafür wäre ein Startkapital hilfreich«, bestätigte Norma.
»Meine Mutter könnte uns die Kohle geben. Wenn sie nur nicht so geizig wäre. Ich meine, die hat doch genug. Aber ihr sind die Bilder wichtiger als ich. Vor allem dieser Jawlensky!«
Nina verstummte und schaute zum Eingang. Die Türglocke hatte angeschlagen.
Schluss mit der Redseligkeit, befürchtete Norma, der Nina noch nie so gesprächig begegnet war. Hatte die Vernehmung sie aufgewühlt und die sonst zur Schau gestellte Coolness aufgetaut?
Es klingelte wieder. Die Eingangstür wurde von zwei schmalen, hohen Fenstern umrahmt, und durch eine der Glasscheiben spähte nun ein Mann und winkte ungeduldig.
Nina beobachtete die Tür. »Ich muss grässlich aussehen.«
»Falsche Jahreszeit! Zu Halloween wäre es unschlagbar.«
Nina grinste und verschwand in der Gästetoilette. Norma stand auf, um dem Besucher zu öffnen.
»Regert«, sagte der Mann. »Dr. Gregor Regert.«
Einen Kunst sammelnden Mediziner hatte sie sich anders vorgestellt, auf eine dezente Art feingeistig und blass. Regerts ebenmäßiges Gesicht war sonnengebräunt und mit einem prägnanten Kinn und einer scharf gezeichneten Nase versehen. Unter dem blauen Hemd mit aufgerollten Ärmeln zeichneten sich muskulöse Schultern und Oberarme ab. Er trug schlichte schwarze Lederschuhe zur Jeans, keine Uhr und auch sonst nichts von offensichtlichem Wert. Mit voll tönender Stimme fragte er nach Undine.
Frau Abendstern sei nicht im Haus, antwortete Norma und stellte sich als Assistentin Mieke Lienhop vor.
Er zeigte ein einnehmendes Lächeln. »Frau Abendstern hat mir eine ›Meditation‹ von Jawlensky angeboten. Dürfte ich das Bild bitte sehen?«
»Zur Zeit befindet es sich in der Schweiz«, erklärte Norma. «Ich könnte Ihnen ein Farbbild zeigen.« Der Schweizer Kunsthändler hatte der Mail eine Fotodatei angehängt. Norma druckte das Bild aus und übergab es Regert. »Leider nur ein kümmerlicher Ersatz für das Original.«
»Der mir aber eine Ahnung gibt, wie zauberhaft das Gemälde sein muss.« Begeistert hielt Regert den Zettel ins Licht. »Wussten Sie, dass Jawlensky die Meditationen hier in Wiesbaden malte? Natürlich wissen Sie das. Ich hatte so sehr gehofft, Frau Abendstern persönlich anzutreffen.«
»Sie wird Sie gern anrufen!«
Regert strahlte sie an. »Ich habe eine große Bitte. Vielleicht können Sie mir helfen, Frau Lienhop?«
»Wenn es mir möglich ist, gern.«
Er nickte zufrieden. »Wenn ich richtig informiert bin, besitzt Frau Abendstern ein Stillleben von Jawlensky.«
Normas Herz schlug ein paar Takte schneller. »Das Bild heißt das ›Schweigende Rot‹.«
»Das ist mir bekannt. Ich habe gelesen, dass es für die Ausstellung in Basel vorgesehen ist. Hängt es zurzeit noch hier in der
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