Kunstgriff
Verlangen nach Kaffee. Noch drängender war der Wunsch, nach Hause zu fahren. Miekes Rolle war ausgespielt. Nach dem Ende der Tournee würde Marco seinen Platz in der WG und der Galerie wieder einnehmen. Mit Milanos Erlaubnis durfte sie ihre persönlichen Sachen aus dem Zimmer holen, bevor sich die Spurensicherung jeden Raum vornehmen würde. Während Wolfert am Küchentisch mit den Kollegen telefonierte, ging sie zum Telefonieren auf den Flur.
Ehlers freute sich. »Norma, hast du dich anders entschieden? Lässt du mich nun doch in die Taunusstraße ziehen?«
»Es geht nicht um die Wohnung. Ich biete dir ein Mandat an.«
»In eigener Angelegenheit?«, entgegnete er kühl.
»Das nicht. Es handelt sich um Kunstdiebstahl und Erpressung. Womöglich besteht ein Zusammenhang zu dem weiteren Toten, den man heute morgen im Stadtwald gefunden hat.«
»Ein zweiter Toter? Womöglich wieder der Bogenschütze?«
»Du sagst es. Bist du interessiert?«
»Das fragst du?«
Sie gab ihm einen kurzen Überblick und kehrte in die Küche zurück. »Eine Bitte, Dirk. Könnt ihr mir Informationen über diese Telefonanschlüsse besorgen?«
Sie diktierte ihm die Mobilnummer, unter der Undine die SMS des Erpressers beantwortet hatte, sowie die Telefonnummer des gefundenen Handys. Selbstverständlich wollte er wissen, worum es ging.
Wolfert klappte das Notizbuch zu. »Zwei Morde sind geschehen. Diese Erpressung ist keine Privatangelegenheit mehr. Frau Abendstern wird mit uns kooperieren müssen. Mach ihr das bitte klar.«
»Ich will mein Bestes geben und mache mich gleich auf den Weg«, versprach Norma.
Den neuen Stand der Dinge konnte sie ihrer Klientin unmöglich am Telefon erklären.
28
Montag, der 23. Juni
Am Tag nach Ricos Tod fühlte Norma sich in einen beunruhigenden Schwebezustand versetzt. Als stünde sie auf einem zugigen Bahnsteig im Nirgendwo, wäre aus einem Zug ausgestiegen und wartete auf den nächsten, um an ein fernes, unbekanntes Ziel zu gelangen. Nina und Rico waren als Kunstdiebe überführt, aber was mochte mit dem Gemälde geschehen sein? Solange der Verbleib des Jawlenskys nicht geklärt war, konnte sie den Auftrag nicht abschließen. Unter dem Zwang der aktuellen Entwicklung blieb Undine nichts anderes übrig, als mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Zu Normas Erleichterung wurden die Beamten Wolfert und Milano als dafür zuständig erklärt, waren sie doch bereits mit den Fakten vertraut.
Sie verbrachte den Vormittag im Büro; vordergründig, um die gedruckte und elektronische Post zu bearbeiten. Tatsächlich kreisten ihre Gedanken um das Geschehen der vergangenen Tage. Ricos Tod ging ihr nahe. Sie hatte mit ihm gemeinsam Wein getrunken und die Wohnung mit ihm geteilt. Außerdem, wer wollte ausschließen, dass der Mörder sein unheimliches Werkzeug nicht ein drittes Mal einsetzte? Wer war dieser Mensch, der am helllichten Tag mit einem Jagdbogen durch den Stadtwald streifte, um Leute zu erschießen? Ein Psychopath? Oder ein eiskalter Killer, der sich unantastbar fühlte? Die eine Version gefiel ihr so wenig wie die andere.
Bei einer Kaffeepause nahm sie sich noch einmal die Artikel vor, die Kurier und Tagblatt zum aktuellen Mordfall gebracht hatten. Der Nachruf im Kurier hob Ricos sportliche Leistungen hervor, deutete seine kriminellen Verstrickungen dagegen nur an mit dem Hinweis, man wolle die Pressekonferenz der Polizei abwarten. Ähnlich zurückhaltend formulierte das Tagblatt die Zusammenhänge.
Norma hatte vom Bäcker gegenüber gleich beide Zeitungen mitgebracht und auf der Straße unwillkürlich nach Gregor Regert Ausschau gehalten, obwohl sie sich nicht länger verstecken müsste. Sie war ihm, Undines unvermeidlichem Dauergast, in der Galerie begegnet, als sie die unguten Neuigkeiten von Ricos Tod und Ninas Geständnis überbrachte, und hatte keinen Sinn darin gesehen, die Tarnung weiterhin aufrecht zu halten. Regert war der Enthüllung mit beleidigter Miene begegnet.
Erfrischt durch die Pause widmete sie sich ihren Aufzeichnungen. Wie sie die akribische Polizeiarbeit gelernt hatte, untermauerte sie ihre Erkenntnisse mit einem Flussdiagramm, das alle Informationen zur Tat und zu den beteiligten Personen enthielt. Darin hatte sie sich bisher auf das Geschehen rund um den Bilderdiebstahl konzentriert. Ricos unverhofftes Ende legte nahe, diesen Horizont zu erweitern. Aufs Neue bewegten sich ihre Gedanken um den Täter. Was nährte seinen Glauben, man käme ihm nicht auf die Schliche? Weil er
Weitere Kostenlose Bücher