Kupfervenus
bewohnt war, der wartet nicht, bis die Männer mit den Schaufeln kommen, sondern fängt an, mit bloßen Händen zu graben. Das bringt natürlich kaum was. Aber wie kann man einfach nur untätig dastehen?
Alles, worum ich mich auf dieser Welt noch sorgen mußte, waren zwei Kuchen in einem Hut voll Staub. Ich legte den Hut auf eine Türschwelle und breite meinen Mantel darüber. Eine Geste, mehr nicht, während ich krampfhaft versuchte, mich zu fangen.
Bleib da … rühr dich nicht vom Fleck – bleib schön da liegen und warte auf mich!
Für den Weg zu dem, was einmal meine Wohnung gewesen war, brauchte ich eine halbe Ewigkeit. Andere rückten mit mir vor. Auch als Fremder tut man in so einem Fall, was man kann.
Ich wollte rufen; ich wollte brüllen. Ich brachte ihren Namen nicht über die Lippen. Jemand anderes rief aber doch: ein Schrei, bloß ein Signal, um anzuzeigen: Wir sind da. Und dann warteten wir, bis der rieselnde Schutt sich gesetzt hatte, und lauschten. Das ist die Regel; man ruft oder hämmert auf irgendwas; dann lauscht man; dann wird gegraben. Wer Glück hat, weiß, nach wem oder wonach. Aber gegraben wird so oder so. Ganze Balken zerrt man beiseite, als wär’s Klafterholz, verrückt Türen, die noch in den Angeln hängen, stemmt geborstene Träger und durchwühlt tonnenweise unkenntliches Geröll, das komischerweise nicht mehr die geringste Ähnlichkeit hat mit den Materialien, die in dem Gebäude verbaut waren. Vor lauter Staub kann man kaum etwas sehen. Bloß Schatten. Auf einmal sackt der Schutt unter deinen Füßen einfach weg, so plötzlich, daß du ins Leere trittst; dein Herz klopft wie rasend, und neue Dreckwolken rauben dir die Sicht. Ein zehn Zentimeter langer Nagel, noch so glänzend wie an dem Tag, als er eingeschlagen wurde, bohrt sich dir ins Knie. Die Haut hängt dir in Fetzen von den Handrücken, aufgerissen an Ziegeln und Balken. Dein Gesicht brennt unter der dicken, fahlen Staubkruste, die nicht mal den Schweiß durchläßt. Deine Kleider starren vor Dreck, die Stiefel sind reif für den Müll. Zehen und Knöchel bluten durch die Riemen. Der allgegenwärtige Staub verstopft dir die Lunge.
Von Zeit zu Zeit halten die Leute wieder inne und fordern Ruhe; und dann faßt sich jemand ein Herz und ruft. Und du stehst da und lauschst, während der lose Mörtel über geborstene Backsteine, Dachziegel und das papierdünne Lattenwerk rieselt – ein Haufen Schutt, der einmal dein Zuhause war.
Wenn das Haus groß war, dann weißt du schon im voraus, daß wenig Chance besteht, von irgendwoher Antwort zu bekommen.
Während der Arbeit wechselte ich mit kaum jemandem ein Wort. Selbst einem Fremden muß klargewesen sein, daß ich dieses Haus kannte. Als die ersten Spaten eintrafen, schnappte ich mir sofort einen: das Vorrecht des Eigentümers. Einmal krachte es fürchterlich, und wir mußten alle zurückweichen, weil ein Schuttberg ins Rutschen kam. Anschließend übernahm ich die Führung und überwachte das Einrammen der Stützbalken. Ich war Soldat gewesen und darauf gedrillt, das Kommando zu übernehmen, wenn Zivilisten wie aufgescheuchte Hühner durcheinanderstoben. Sogar in einer Katastrophe mußt du kühlen Kopf bewahren. Selbst wenn ich sie verloren hatte, würde sie das von mir erwarten. Sie würde erwarten, daß ich alles Menschenmögliche tat, um vielleicht wenigstens andere zu retten. War sie hier, dann war ich ihr zumindest nahe. Ich würde bleiben, wenn nötig Tag und Nacht, bis ich Gewißheit hatte.
Meine Gefühle, die würden bis später warten müssen. Je später, desto besser. Wer weiß, ob ich das, was mein Verstand mir schon jetzt an Gefühlen eingab, jemals würde ertragen können.
Als sie die Frauenleiche fanden, wurde es ganz still.
Keine Ahnung, wer meinen Namen rief. Eine Gasse öffnete sich. Ich zwang mich, hinzuwanken und sie anzusehen; alles wartete und beobachtete mich. Hände strichen mir über den Rücken.
Sie war grau. Graues Kleid, grauer Teint, graues, verfilztes Haar, das von Gipsstaub und Schuttkörnern starrte. Ein Leichnam ganz aus Staub. Bis zur Unkenntlichkeit verdreckt.
Keine Ohrringe. Das Ohrläppchen verkehrt geschwungen und ohne Gold dran – ja nicht einmal das winzige Löchlein zum Einhängen war da.
Ich schüttelte den Kopf. »Meine war größer.«
Außerdem erkannte ich, sobald ich es endlich wagte, genauer hinzusehen, daß das Haar dieser Frau auch ohne die Staubschicht drauf grau bleiben würde. Das Haar war schütter – nur ein
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