Kurbjuweit, Dirk
hängt,
sodass es aussieht, als würde sie von einer Frau getragen.
«Natürlich
lebt sie», sagte Maxi.
Esther
machte einen Schritt vor und blickte durch das Stoffgitter. Blaue Augen, weit
aufgerissen und trotzdem tot. Esther stieß mit einer Hand gegen die Schulter,
zu hart, die Figur kippelte und fiel fast.
«Spinnst
du?», schrie Maxi und packte sie am Arm.
Esther
griff nach den Schultern und stabilisierte die Figur. Sie stand jetzt wieder
reglos da. Über die Stirn schlängelte sich eine Schlange, unter dem rechten
Auge tropften rote Tränen, die Wangen waren im Paisley-Stil gemustert. Man
konnte fast denken, es seien Tattoos. Im Brustbereich waren schwarze und weiße
Ringe angedeutet, wie die Ringe von Zielscheiben. Die Schultern schmückten
Kreuze, auf dem Bauch krümmte sich etwas, das auch ein Paisley-Muster sein
konnte oder ein Fötus.
«Du
spinnst», sagte Ina, «du spinnst total.» Maxi setzte sich auf ihr Bett,
lehnte den Rücken gegen die Wand und zog die Knie an.
«Aber es
ist schön geworden», sagte Esther, «du hast das sehr schön gemacht.»
«Fatima
wird jetzt hier mit uns leben», sagte Maxi.
Sie sprang
vom Bett und zog eine Flasche Wodka aus ihrem Spind. Es war schwierig, Schnaps
zu besorgen, er war im Lager verboten. Maxi verriet nicht, wo die Flasche
herkam. Ina zog Fatimas Burka hoch, schlanke, helle Beine tauchten auf, darüber
ein Becken ohne Geschlecht.
«Arme
Fatima», sagte Ina.
Maxi
öffnete die Wodkaflasche und füllte drei Wassergläser.
«Wo hast
du die Schaufensterpuppe her?», fragte Esther.
«Ich habe
sie auf dem Basar gekauft und in unserem Transporter ins Lager geschmuggelt.»
Sie verteilte die drei Gläser, und sie stießen an. «Auf Fatima!», sagte Maxi.
«Auf
Fatima!», sagten Ina und Esther. Sie saßen zu dritt auf Maxis Bett, tranken und
redeten darüber, wie das Leben von Fatima gewesen sein könnte. «Sie wurde in
einem Dorf geboren.»
«Zweiundsiebzig
Einwohner.»
«Ihr Vater
ist Bauer.»
«Ein armer
Bauer.»
«Mohnbauer.»
«Sie hat
acht Geschwister.»
«Fünf
Brüder, drei Schwestern.»
«Sie ist
die Älteste.»
«Sie ist
in der Mitte.»
«Die Acht
hat keine Mitte.»
«Aber sie
sind neun.»
«Stimmt.»
«Mitte?»
«Gut,
Mitte.»
«Sie geht
nicht in die Schule.»
«Sie muss
zu Hause helfen.»
«Auf die
Kleinen aufpassen.»
«Essen
machen.»
«Der
älteste Bruder fummelt an ihr rum.»
«Seit sie
zehn ist.»
«Neun.»
«Und der
Vater.»
«Nicht der
Vater.»
«Gut, der
Vater nicht.»
«Der Vater
ist gut.»
«Okay.»
«Er ist
fleißig, bestellt seine Felder und verkauft Opium an die Drogenbarone.»
«Sie
zahlen ihm einen Hungerlohn.»
«Fatima
ist schwanger von ihrem Bruder.»
«Und
treibt ab.»
«Mit einem
rostigen Nagel, den sie an ein Stück Holz gebunden hat.»
«Hör auf.»
«Der
Bruder muss verschwinden.»
«Sagt der
Vater.»
«Die
Mutter stirbt an Typhus.»
«Jetzt
muss Fatima den ganzen Haushalt machen.»
«Da ist
ein Junge in ihrem Dorf, den findet sie süß.»
«Aber sie
wird einem Mann versprochen, der vierunddreißig Jahre älter ist.»
«Runzelig.»
«Nur ein
Bein.»
«Ist auf
eine Mine getreten.»
«Russische
Antipersonenmine PFM.»
«Pech.»
«Er wäscht
sich nie den Schwanz.»
«Hör jetzt
auf.»
«Vor der
Hochzeit kommt die Nachricht, dass ihr ältester Bruder ums Leben gekommen ist.
Er war einer der Entführer vom elften September.»
«Er war
der Pilot, der es nicht geschafft hat.»
«Auf
freiem Feld abgestürzt.»
«Dann
kommen die Bomber.»
«Das ganze
Dorf wird ausgelöscht.»
«Nur ihr
Hof steht noch.»
«Die
Amerikaner holen ihre Brüder ab.»
«Sie lässt
sich von einem der Amerikaner flachlegen.»
«Lässt sie
nicht.»
«Doch.»
«Nein.»
«In einem
Humvee.»
«Ratte.»
«Hört
auf.»
«Die
Amerikaner schicken ihre Brüder nach Guantánamo.»
«Sie ist
allein mit dem Vater und den Schwestern.»
«Immerhin
muss sie den alten Sack nicht heiraten.»
«Das muss
jetzt ihre nächstjüngere Schwester.»
«Eines
Tages bekommt sie eine Postkarte aus Guantánamo.»
«Liebe
Fatima, die Sonne scheint erfreulich oft, ich werde täglich gefoltert,
herzliche Grüße, Dein Mohammed-, schreibt der zweitjüngste Bruder.»
«Sie betet
natürlich jeden Tag zu Allah.»
«Fünfmal.»
«Dann
kommen die deutschen Soldaten, die sind nett.»
«Die
bohren einen Brunnen auf dem Hofgelände.»
«Und sie
beschützen die Mohnfelder vom Vater.»
«Wenn sie
vorbeifahren und den Mohn so schön rot
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