Kurbjuweit, Dirk
andere Elektrohändler, der nur seiner Frau zuliebe
floh. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie uns zumute war. Was
wir uns ausgemalt haben, was mit unseren Frauen passiert sein konnte.
Dazwischen keimte die Hoffnung, dass sie noch kommen würden, dass ihr Pick-up
einen anderen Weg genommen hatte und sie längst im Flüchtlingslager
eingetroffen waren. Wir waren halb verdurstet, halb verhungert, als wir am
nächsten Morgen losgezogen sind. Bis zum Flüchtlingslager waren wir gut eine
Stunde unterwegs, unsere Frauen waren nicht da. In den folgenden Wochen suchten
wir alle Flüchtlingslager der Region auf, unsere Frauen fanden wir nicht. Der
Elektrohändler ist nach Afghanistan zurückgegangen, der Zahnarzt nach Neuseeland
ausgewandert, wo er Verwandte hatte. Ich bin geblieben, ich habe mir eine
Unterkunft mit vier anderen Afghanen im Flüchtlingslager Shamshatoo geteilt.
Ich hoffte jeden Tag, dass meine Frau und meine Tochter dort eintreffen würden,
aber sie kamen nicht. Alle Anfragen bei Suchdiensten waren vergeblich. Ich
arbeitete in der Schule des Flüchtlingslagers, fünf lange Jahre. Dann sah und
hörte ich eines Tages silberne Vögel am Himmel kratzen, das waren die Bomber
der Amerikaner, das muss im Oktober 2001 gewesen sein, kurz nach den Anschlägen
auf New York und Washington. Sie flogen die ersten Angriffe auf Afghanistan,
ich habe ihnen meine besten Wünsche mitgeschickt. Bald kamen neue Flüchtlinge,
manche waren verwundet von den Bomben. Ich habe alle befragt, die ich finden
konnte, wie schon die Flüchtlinge in den Jahren davor, in den
Flüchtlingslagern oder im Krankenhaus von Peschawar. Ich habe ihnen meine Frau
beschrieben und meine Tochter, weil ich keine Fotos habe, die waren in der
Tasche, die meine Frau bei sich trug. Ich habe nicht ein Bild von ihnen.»
Der
Schuldirektor hielt kurz inne, aber bevor Esther etwas sagen konnte, fuhr er
fort.
«Niemand
hatte etwas gehört. Damit Sie alles wissen: Ich habe in den Jahren davor auch
die Bordelle von Peschawar abgeklappert, mir die Huren angesehen, auch die ganz
jungen, aber meine Frau und meine Tochter waren nicht dabei. Ich habe mit
ihnen gesprochen, niemand wusste etwas. Im Oktober und November 2001 schaute
ich jeden Tag in den Himmel und zählte die silbernen Bomber. Sie kamen vom
Meer, von den Flugzeugträgern, und ich habe mit ihnen gehofft, mit ihnen
gebangt. Meinetwegen konnten ihre Bomben das ganze Land auslöschen, nur meinen
beiden Mädchen durften sie nichts zuleide tun. Es waren genug Bomber, um mit
den Taliban fertig zu werden, das wusste ich. Dann kamen die Bodentruppen, und
als wir in Shamshatoo erfuhren, dass die Amerikaner Dschalalabad eingenommen
hatten, habe ich meine Sachen gepackt und bin mit einem Bus zurückgefahren. Ich
glaube, ich habe jeden Einwohner von Dschalalabad gefragt, ob er etwas von
meiner Familie gehört oder sie gesehen hat. Niemand wusste etwas. Ich habe die
Fahrer und Beifahrer der Pick-ups gesucht. Mein Nachbar, der immer noch in dem
Haus wohnte, hatte mir einen Namen nennen können. Ich fand die Familie des
Fahrers, er war ums Leben gekommen, als die Amerikaner die Stadt einnahmen.
Nach einem halben Jahr habe ich aufgegeben, ich bekam über die Männer nichts
heraus. Ich ging nach Kabul, um dort weiterzusuchen, aber es war schwierig in
Kabul, es gab keine Anhaltspunkte, meine Eltern waren tot, und meine
Schwiegereltern lebten seit vielen Jahren in einem Flüchtlingslager im Iran.
Ich konnte sie über einen Suchdienst finden, aber bei ihnen waren auch keine
Nachrichten von ihrer Tochter oder ihrer Enkelin eingetroffen. Inzwischen
arbeitete ich wieder bei der Schulbehörde, und die haben mich hierher geschickt.
Das ist die Geschichte.» Er hatte das tonlos erzählt, ohne größere Regungen. In
seiner rechten Hand war ein Stift, den er die ganze Zeit gedreht hatte. Esther
fiel keine Frage ein, sie wollte unbedingt etwas sagen, etwas fragen, um ihm
das Gefühl zu geben, dass sie bei ihm war und bei ihm ist, aber sie blieb
sprachlos.
«Danke,
dass Sie nichts sagen», sagte er.
«Ich würde
gerne etwas sagen, aber ...»
«Ich meine
das ernst, es wäre mir lieb, wenn Sie nichts sagen würden. Es ist längst Zeit
zu fahren, oder? Sonst kommen Sie zu spät, das gibt dann Ärger.» Er lächelte
fein.
Es
stimmte, die Schüler waren fort, sie musste fahren, um vor Einbruch der
Dunkelheit im Lager zu sein. Sie stand auf.
«Es ist
wirklich in Ordnung, wenn Sie nichts sagen.»
«Können
wir du sagen?»,
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