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Kurbjuweit, Dirk

Kurbjuweit, Dirk

Titel: Kurbjuweit, Dirk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kriegsbraut
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man jetzt Plätschern und Jauchzen. Esther fing an zu
hassen, sie hasste die Geschäftigkeit genauso wie die Tatenlosigkeit, sie
hasste das Feierabendgefühl, wenn sie am Abend die Stiefel und Socken
ausgezogen hatte, sie hasste das manische Gewehrputzen, das Warten auf irgendwas.
Sie hasste sich selbst, wenn sie in den Marketenderladen ging, ohne etwas zu
brauchen, nur um ein bisschen bunte Konsumwelt sehen zu können, die Verpackungen
von Seifen, Deos und Zigaretten. Und sie hasste sich, wenn sie über einem
leeren Blatt saß und ihr nichts einfiel, was sie Henriette und Paulus hätte
schreiben können. Die beiden schickten ihr häufig Briefe und Bilder, die sie
gemalt hatten, aber Esther fehlten die Worte, die von dieser Welt in die andere
reichen konnten.
    Als sie in
einer hinteren Ecke des Lagers etwas erledigen musste, nahm sie einen Wolf und
stellte ihn an den Straßenrand. Nach fünf Minuten kam sie zurück, und jetzt
lehnten zwei Feldjäger an Esthers Wolf, ein Mann und eine Frau. «Parken ist
hier verboten», sagte der Mann.
    «Das ist
jetzt ein Scherz, oder?»
    Die beiden
lösten sich von dem Auto, sie standen breitbeinig da, halber Schritt Distanz
zwischen den Füßen, die Frau hatte beide Hände in der Hosentasche, die Daumen
des Mannes steckten im Koppel.
    «Hier darf
nicht geparkt werden», sagte die Frau.
    «Wo steht
das?»
    «In der
Lagerordnung», sagte der Mann. «Mal lesen», sagte die Frau. «Und jetzt?»
    «Verstöße
gegen die Lagerordnung werden geahndet», sagte die Frau.
    Hinter den
beiden ragte der Hindukusch auf, blassgelb und schroff. Das Thermometer hatte
gegen Mittag achtunddreißig Grad angezeigt. Maxi war draußen, weil eine
Patrouille etwas Verdächtiges am Straßenrand gesehen hatte. Vielleicht zog sie
gerade ihren Schutzanzug an. Womöglich nahm ein Sniper sie ins Visier. Die
Frau hatte einen Block aus der Jackentasche gezogen und machte sich eine Notiz.
Esther starrte sie ungläubig an, sagte aber nichts. Die Frau klappte den Block
zu und sagte: «Fahren Sie bitte sofort das Fahrzeug hier weg.» Esther stieg in
den Wolf und fuhr davon.
     
    Die
Mädchen gingen wieder in die Schule, und mit dem Schuldirektor war inzwischen
eine fast normale Unterhaltung möglich. Sie hatte damit begonnen, dass sie
sich über die Russen ihrer früheren Leben austauschten.
    «Wie waren
Ihre Russen?», fragte der Schuldirektor.
    Sie sagte,
dass sie ein Kind gewesen sei und nicht viel mitbekommen habe. «Auf der Insel
tauchten fast nie welche auf, nur einmal begegnete ich einer Gruppe am Strand.
Es waren junge, dünne Männer, bei denen man die Knochen unter der Haut sehen
konnte und die brutal miteinander umgingen. Erschrocken beobachtete ich, wie
sie im Wasser einen Mann so lange tunkten, dass ich glaubte, er müsse tot sein,
aber er lebte; als sein Kopf wieder auftauchte, wurde er noch einmal getunkt,
länger noch, aber er überlebte auch das. Nachdem die Mauer gefallen war, hörte
ich, dass die Russen aus der Kaserne auf dem Festland Waffen verkauften. Ein
paar Jungs aus meiner Schule überlegten großspurig, was sie mit diesen Waffen
tun würden, aber niemand besorgte sich welche. Und einmal hatten meine Eltern
eine Reifenpanne, und mein Vater hat eine Radmutter nicht lösen können. Da
standen wir blöd da, bis ein russischer Konvoi vorbeikam, sechs, sieben
Laster. Die haben gehalten, und ein paar Soldaten sind ausgestiegen, einer hat
gefragt, was los sei. Mein Vater hat es ihm erzählt. Sie haben ihm geholfen,
und weil es gedauert hat, sind alle ausgestiegen. Wir waren plötzlich von
sechzig, siebzig russischen Soldaten umgeben auf einer einsamen Landstraße,
und ich habe gemerkt, wie nervös meine Mutter war. Aber die haben nur still
geraucht, und dann hat es einer geschafft, die Radmutter zu lösen, und sie
haben das Rad gewechselt. Und Ihre Russen, wie waren die?»
    «Als die
Sowjets in Afghanistan einmarschiert sind, war ich dreizehn Jahre alt», sagte
der Schuldirektor. «Meine Eltern waren Kommunisten und hatten nichts dagegen,
dass die Sowjetunion die Herrschaft übernahm. Wir wohnten in Kabul, und das
Leben wurde nicht schlechter durch die fremden Soldaten. Meine Eltern sagten,
dass es für Intellektuelle mit den Russen leichter sei als mit den
Mudschaheddin, die gegen die Russen kämpften. Als ich mit der Schule fertig
war, studierte ich Russisch, Mathematik und Physik, um Lehrer zu werden. Ich
heiratete und bekam eine Stelle in Dschalalabad. Weil die Grenze zu Pakistan
nahe war,

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