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Kurbjuweit, Dirk

Kurbjuweit, Dirk

Titel: Kurbjuweit, Dirk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kriegsbraut
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...»
    «Nein,
bitte, fangen Sie bitte am Morgen an. Wie war Ihr Auftrag?»
    Das wusste
er doch. Wollten sie das wirklich alles von ihr hören, den ganzen Sermon? Damit
sie sich widersprach? Sie erzählte von dem Auftrag, von der Abfahrt, vom Weg
zur Schule. Die Feder des Füllers kratzte über das Papier. Der Kommandeur hatte
seine Arme vor der Brust verschränkt, der Truppenpsychologe kaute am Nagel
seines linken kleinen Fingers, der Oberstleutnant nickte ihr unablässig zu. Als
sie erzählte, wie sie sich auf der Hinfahrt dem Fluss näherten, nahm der Kommandeur
seine Arme runter und beugte sich vor.
    «Was haben
Sie gesehen? Waren dort Menschen?»
    «Nein, da
war niemand», sagte Esther, und das sagte sie mit dem guten Gefühl, das man
hat, wenn man an einer entscheidenden Stelle die Wahrheit sagen kann. Sie
hatte niemanden gesehen an diesem Tag.
    «Auch
keine Zivilisten?», fragte der Kommandeur.
    Die Frage
war ein Schock. Wenn er das fragte, wusste er, dass Zivilisten in dem Gehöft
waren, und das konnte er nur wissen, weil ihm die Feldjäger von den Leichen
berichtet hatten. Sie hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Sie wusste
nicht, was in ihrem Gesicht stand, was der Truppenpsychologe darin sehen
konnte.
    «Auch
keine Zivilisten», sagte sie.
    «Haben Sie
zu einem anderen Zeitpunkt Menschen an diesem Ort gesehen?», fragte der
Kommandeur.
    «Ja, immer
wieder. Der Fluss ist nicht ganz leicht zu durchqueren, manche Afghanen halten
dort, steigen aus und schauen sich die Lage genau an. Einmal haben wir erlebt,
dass ein Kleinbus stecken geblieben ist. Wir haben geholfen, ihn wieder
flottzumachen.»
    «Haben Sie
registriert, dass das Gehöft bewohnt ist?»
    Nun sag es
doch schon, dachte Esther, wütend jetzt, sag doch schon, dass eine Frau und
zwei Kinder draufgegangen sind und dass es meine Schuld ist. «Die meisten
dieser Höfe wirken unbewohnt. Die Tore sind immer verschlossen, man sieht
eigentlich nie jemanden.»
    «Und bei
diesem speziellen Hof, hatten Sie da auch den Eindruck, dass er unbewohnt ist?»
    «Den
Eindruck konnte man haben.»
    Er schien
zufrieden mit der Antwort. «Gut, fahren Sie fort.»
    Sie
schilderte den weiteren Weg zur Schule. Der Kommandeur fragte erst wieder, als
sie ihr Gespräch mit Mehsud erwähnte. Ob ihr da etwas Besonderes aufgefallen
sei. Nein, ihr sei nichts Besonderes aufgefallen, es sei gewesen wie immer, ein
Gespräch über die Schule, über die Schüler, deren Leistungen, Krankheiten, das
Übliche halt. Sie log jetzt mit einer Festigkeit, mit der man sonst Wahrheiten
erzählt. Sie musste eine Liebe schützen, das war nicht verwerflich, da hatte
die Lüge die moralische Qualität einer Wahrheit, dachte sie. Sie schilderte die
Rückfahrt, bis zu dem Punkt, als der vordere Wolf zum Fluss hinunterrollte.
    «Moment»,
sagte der Kommandeur, «haben Sie in diesem Augenblick irgendwelche Menschen
bemerkt?»
    «Nein.»
    «Haben Sie
zu dem Hof geblickt?»
    «Nein.»
Die Wahrheit, wieder die Wahrheit, sie konnte ihnen so viel Wahrheit anbieten.
    «Dann
explodierte der vordere Wolf», sagte der Kommandeur.
    «Dann
explodierte der vordere Wolf», sagte Esther. «Sie müssen uns das jetzt wirklich
sehr genau erzählen.»
    Sie tat
das, sie wollte nichts mehr verbergen, sie wollte ihnen erzählen, dass sie sich
bewährt hatte im Kampf, und das hatte sie doch auch. Ihr war nicht mehr klar,
ob sie dreimal das Feuer erwidert hatte oder viermal, aber das machte ja keinen
großen Unterschied. Sie hatte gekämpft, und an der Art, wie ihr diese Männer
an den Lippen hingen, erkannte sie, dass damit etwas ganz Neues für sie
begann. Sie war im Gefecht gewesen, anders als diese Männer, die aus dem Lager
fast nie herauskamen. Sie spürte, wie sich die Hierarchie dieses Gesprächs gedreht
hatte, wie nun nicht mehr dominant, sondern atemlos gefragt wurde, die Feder
kratzte freudig, eine kleine Hymne zu ihren Worten. Sie hatte diesen Kerlen
etwas voraus, und es ging Esther sehr gut, bis der Punkt kam, wo sie das
Gespräch mit der Pilotin wiedergeben sollte, mit Sally. «Sie hat mich gefragt,
ob ich Zivilisten gesehen habe, und da habe ich nein gesagt, weil ich ja keine
gesehen habe.»
    Ihre Worte
fielen in eine absolute Stille, und da wusste Esther alles, aber sie brach
nicht wieder zusammen, als hätte sie ihr Bericht über das Gefecht gestärkt,
verwandelt, als sei sie nun in der Lage, es mit allem aufzunehmen.
    «Hat sie
einmal gefragt oder zweimal?»
    Esther
tat, als würde sie überlegen. Wenn

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