Kurbjuweit, Dirk
warf sich in den Staub. «Tot»,
sagte sie. «Scheiße.»
Sie wusste
nichts von ihnen. Die Infanteristen, die sie begleiteten, wechselten manchmal
täglich. Zwei Männer, jung, gut gebaut.
Esther
wollte an die Infanteristen denken, aber sie dachte nur an die Frau und die
beiden Kinder. Warum hatte sie nein gesagt? Weil es stimmte. Sie hatte keine
Zivilisten gesehen. Aber sie wusste, dass die Frau in diesem Gehöft lebte, die
Frau und die beiden Jungs. Sie hatte zunächst nicht an sie gedacht, das Gehöft
war der Ort, aus dem die Schüsse kamen. Aber nach Sallys Frage war ihr die Frau
eingefallen. Sie hätte noch schnell sagen können, dass in dem Gehöft womöglich
eine Frau und zwei Kinder waren, dann wäre es Sallys Entscheidung gewesen:
bombardieren oder nicht. Doch Esther hatte nichts gesagt.
Sie hätte
das sagen müssen.
Sie musste
das nicht sagen.
Sally
hatte gefragt, ob Esther Zivilisten gesehen habe, und das war nicht so zu
verstehen, ob sie Zivilisten vor ein paar Tagen gesehen habe. Es ging um jetzt,
es ging um die Zeit des Gefechts, das war eindeutig. Wenn man überall dort
nicht mehr schießen konnte, wo sich einmal Zivilisten aufgehalten hatten,
konnte man gar nicht mehr schießen. Wahrscheinlich waren die Frau und die
Kinder während des Gefechts nicht im Gehöft gewesen. Die Taliban hatten sie
gewarnt oder weggeschafft. Wobei sie gehört hatte, dass Taliban Zivilisten
gerne als Deckung nahmen, weil sie um die Skrupel ihrer Gegner wussten.
Sie kniete
noch immer im Sand und sah zu, wie sich der Staub allmählich legte. Ihr Gewehr
hatte sie im Anschlag, falls sich eine Gestalt aus dem Nebel lösen sollte. Aber
sie würde nicht sofort schießen. Das würde sie nicht tun. Falls es die Frau war
oder ein Kind. Sie drehte sich um zu dem Pferd und sah, dass es nach wie vor
ruhig am Baum stand. Hinter ihr war alles grün, vor ihr war alles gelb. Dazwischen
der schwarze Rauch aus dem Wolf. Die Mauer, die allmählich im Staub auftauchte,
war höchstens noch einen halben Meter hoch, das Haus war verschwunden. Einen
Menschen oder etwas, das einem Menschen ähnelte, konnte sie nicht sehen. Sie
rutschte zu Tauber und sah sich sein Bein an. Die Blutung war gestoppt. Sie
holte einen blauen Filzstift aus ihrer Schutzweste, sah auf die Uhr und schrieb
«15.05» auf Taubers Stirn. Eine Viertelstunde war seither vergangen, jetzt
hatte er noch fünf Stunden und fünfundvierzig Minuten, bis es kritisch wurde
mit seinem abgebundenen Bein. Sie hatte plötzlich ein zufriedenes Gefühl. Alles
richtig gemacht, dachte sie, alles vorschriftsgemäß. «Bald bist du zu Hause»,
sagte sie und dachte dann, dass sie das gesagt hatte, weil sie diesen Satz aus
Kriegsfilmen kannte. Sie fragte sich, ob Tauber auch wusste, dass in dem Gehöft
eine Frau und zwei Kinder gelebt hatten, aber sie fragte ihn nicht.
Der
Kommandeur meldete sich und fragte, wie die Lage sei. Esther beschrieb die Lage
und sagte, dass in dem Gehöft Verletzte sein könnten. «Sie bleiben, wo Sie
sind», sagte der Kommandeur.
Es war ein
bisschen dunkler geworden, aber vielleicht lag das an dem Staub. Es war still,
bis auf das Rauschen des Grases. Der Wind blies stärker. Esther beobachtete das
Gehöft. Nach einer Weile sah sie auf die Uhr, der Konvoi würde noch eine Stunde
brauchen. Der Wolf der Infanteristen stand im Wasser wie das Skelett eines Tieres,
das beim Trinken verendet war. «Ich gehe nachsehen, ob es im Hof Verletzte
gibt», sagte Esther.
«Wir
sollen hierbleiben, es ist gefährlich», sagte Tauber.
«Vielleicht
können wir jemanden retten.»
«Wo eine
Hellfire einschlägt, gibt es keine Verletzten, nur Tote.»
«Dann kann
ich ja auch hingehen.»
«Warum?»
«Weil Tote
ungefährlich sind.»
«Aber dann
kannst du auch niemanden retten.»
Sie blieb.
Einen Befehl zu verweigern war keine Kleinigkeit. Und es sah wirklich nicht so
aus, als habe jemand dieses Bombardement überleben können. Aber sie wollte
dorthin, um sich zu vergewissern, dass da nicht zwei kleine Leichen lagen und
die Leiche einer Frau. «Lass es nicht so sein», sagte sie leise und wusste
nicht, wem sie das sagte. Gott? Dann doch? Sie hörte Motorengeräusch. Es war
nicht der Konvoi, der konnte noch nicht hier sein, außerdem kam das Geräusch
aus der Schlucht, also aus der anderen Richtung. Sie stellte sich hin und hielt
ihr Gewehr auf den Eingang der Schlucht gerichtet. Das Geräusch kam näher, und
ein weißer Kleinbus tauchte auf. Der Fahrer bremste abrupt, sodass die
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