Kurbjuweit, Dirk
verwundert, besorgt.
«Welche Maschine?», fragte Thilo, und an seinem Blick sah Esther, dass es keine
Maschine gab. «Dann hab ich das wohl geträumt.» Alle lachten.
Greta
sagte, sie solle doch endlich von Afghanistan erzählen, sie seien schon so
gespannt. Esther klopfte ihr Frühstücksei auf, und ihr ging die Geschichte
durch den Kopf, die sie sich hundertmal erzählt hatte, immer wieder ergänzt
und modifiziert, die Geschichte ihrer Zeit in Afghanistan. Sie hatte sich das
so erzählt, wie sie es anderen erzählen würde nach ihrer Rückkehr, als Übung,
weil sie nichts falsch machen wollte. Esther klopfte auf dem Ei herum, und als
sie fertig war mit dem Pellen, stand sie wortlos auf und ging schwimmen.
Sie schwamm
ein Stück, wollte bald kehrtmachen, schwamm aber noch weiter hinaus. Mit
letzter Kraft erreichte sie eine Boje. Hinter ihr, weit entfernt, lag das
Strandbad Wannsee, vor ihr lag Sacrow, eine Reihe von Villen am Ufer, frisch
renoviert die meisten, Rasen bis zum Wasser. Ihr wurde kalt, aber sie wollte
die Boje nicht loslassen. Sie sah, wie Thilo in das kleine Bootshaus ging und
das Ruderboot klarmachte. Greta brachte ihm Handtücher, die er auf die hintere
Bank legte. Wenig später war Thilo bei ihr, reichte ihr die Hand, und sie
kletterte ins Boot. Sie zitterte, er legte ihr ein großes Handtuch über die
Schultern und rieb ihren Körper warm. Das Boot schaukelte. Thilo ruderte zurück
zum Ufer.
Am
Nachmittag, als sie allein im Haus war, stieg sie auf den Dachboden. Sie hatte
eine Weile überlegt, ob sie das tun sollte. Wenn sie Dinge, die es nicht gab,
hören konnte, dann konnte sie womöglich auch Dinge, die es nicht gab, sehen. So
wusste sie nicht, ob sie mehr Angst davor hatte, eine Maschine zu sehen oder
keine Maschine zu sehen. Sie drückte die Klinke herunter, stieß die Tür auf
und fand sich in einem Spielzimmer wieder, das Greta und Thilo wohl erst
kürzlich hier eingerichtet hatten. Ein blauer Stofftunnel, durch den man
kriechen konnte, ein Klettergerüst, ein rotes Bobby-Car und eine Menge
Spielsachen auf den Dielen und den Matratzen, die in einer Ecke lagen. Sie
setzte sich neben einen Tiger, dem ein Auge fehlte. Was sollte sie jetzt tun?
Sich bei der Truppe melden und einen Psychologen aufsuchen? So schlecht ging es
ihr doch gar nicht. Sie starrte in das Zimmer, als könne ihr Blick eine
Maschine entstehen lassen. Dann stand sie auf, beugte sich über das Bobby-Car,
griff das Lenkrad und schob es vor und zurück. Es kann sein, dachte Esther. Sie
setzte sich auf das kleine Auto, ihre Knie erreichten fast ihr Gesicht, sie
stieß sich mit den Füßen ab, und die Plastikräder rollten laut über die Dielen.
So drehte sie eine Runde, lächelnd, glücklich.
Drei Tage
verließ sie das Haus nicht, außer zum Schwimmen. Sie lag auf dem Bett oder
spielte mit den drei Kindern. Für den Jüngsten, Hubert, gab sie Bären und Hunden
aus Stoff Stimme und Seele und führte mit ihnen kleine Theaterstücke auf. Mit
Henriette und Paulus spielte sie Tennis an der Wii und Scrabble.
Greta und
Thilo sah sie nur bei den Mahlzeiten. Thilo kam mit dem «Tagebuch eines
Landpfarrers» nicht weiter, aber er hatte ein neues Konzept für den
Riefenstahl-Film gefunden. Er wollte nur ihre Zeit bei den Nuba zeigen, sonst
nichts, nichts von Hitler, nichts von Nürnberg. Über die Nuba könne man alles
von der Riefenstahl erzählen, sagte er. Die Riefenstahl mit diesen dunkelhäutigen
Menschen, bei denen sie lernt, dass die weiße Rasse die schlechtere ist.
«Die hat
die Nuba doch nur missbraucht», sagte Greta.
Esther
sagte, dass ein paar Jungs im Lager «Triumph des Willens» geschaut hätten.
«Der ist
ja auch gut gemacht», sagte Thilo.
«Nazidreck»,
sagte Greta.
Esther
fragte sich, ob etwas mit der Ehe der beiden nicht stimmte, andererseits war
das noch nie so richtig der Fall gewesen. Sie wollte nicht, dass sie sich
trennen. Es war ihre Familie.
Am vierten
Tag fragte Esther beim Frühstück, wann die Busse führen, und nahm den um zwölf.
In Kladow wartete sie auf das Schiff, das sie auf die andere Seite des Wannsees
bringen sollte. Vier Fahrradfahrer gingen mit ihr an Bord, bunt gekleidet, rosa
mit lila, giftgrün, hellgelb, enge Hosen, die alle Konturen zeigten, Schwänze,
Eier, Mosen. Sie stieg aufs Dach und setzte sich in die Sonne. Der Wannsee lag
still wie eine Eisfläche unter ihr, weiße Segel, ein Wasserskifahrer. Es war
ein warmer Tag ohne Wolken, aber die Sonne war schwach gegen die Sonne, die
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