Kurbjuweit, Dirk
«Ja.»
«Und wie
ist es da so?»
Esther
erzählte das, was sie zuletzt gesehen hatte. Beim Flug von Kunduz nach Termez
saß sie bei den Piloten, die immer gerne eine Frau nach vorne einluden. Die
Maschine stieg steil auf und flog über die Berge, die erst grün gesprenkelt
waren, dann monochrom braun oder hellbraun gefärbt, faltig, knittrig, als wäre
ein Tuch erst zusammengeknüllt und dann achtlos hingeworfen worden. Ödnis,
menschenleere Ödnis. Manchmal tauchte ein blasser Strich auf, der aus dem
Nichts kam, eine Straße offenbar oder ein Pfad, der zu einer Siedlung führte. Die
Häuser waren kaum zu erkennen, weil sie die Farbe der Berge hatten. Nachdem
lange keine Siedlungen und Pfade mehr zu sehen gewesen waren, dachte Esther,
sie habe das Ende des menschlichen Lebensraumes unter sich, eine Wüstenei, in
der nicht einmal Afghanen überleben können, aber dann kam doch wieder eine
Siedlung, im Schnee nun, ein paar Häuser, die von oben dunkle Rechtecke waren.
Sie können überall leben, dachte sie, unter allen Bedingungen. Der Kopilot
versuchte, sie erst in ein Gespräch über Kinofilme zu ziehen, dann über Geschwaderfeten,
aber sie war maulfaul, zu sehr beschäftigt mit der Unwirtlichkeit dort unten,
und dann ließ er es. Bald sank die Maschine, und sie landeten in Termez.
«Die armen
Menschen», sagte die Verkäuferin.
Esther
stand auf, die Verkäuferin ebenfalls. An der Tür zeigte sie Esther, wie sie
gehen müsse, um zum Laden von Joop zu kommen. Dort stehe nicht Joop, sondern
«Wunderkind», sagte sie in einer Weise, als könne eine Soldatin das nicht
wissen. «Das ist seine Marke», sagte sie.
«Ich
weiß», sagte Esther. Sie bedankte sich und ging.
«Viel
Glück», sagte die Verkäuferin.
Im
Schaufenster des Ladens, der «Wunderkind» hieß, sah sie keine blauen Kleider,
nur weiße, verspielte. Sie ging trotzdem hinein und fragte, ob es blaue Kleider
gebe. Von einer Burka sagte sie nichts. Der Laden war groß, aber es gab wenig
Sachen zu kaufen. Die Verkäuferin führte sie zu einem Kleiderständer, und schon
von weitem sah Esther das Blau, das sie suchte, eher hell als dunkel, kräftig
leuchtend. Die Verkäuferin zeigte ihr zuerst ein blassblaues Kleid und dann das
richtige. «Kann ich es anziehen?», fragte Esther. «Natürlich», sagte die
Verkäuferin und zeigte ihr die Umkleidekabine. Esther zog sich aus und schaute
dabei die ganze Zeit auf das Kleid, das an einem Haken neben dem Spiegel hing.
Sie freute sich über das Blau, das ihr so vertraut war, und Mehsud auch.
Das Kleid
saß etwas eng an den Schultern, das merkte sie schon, als sie es anzog, aber es
war nicht so eng, dass die Nähte platzen würden, und sicher konnte man etwas
ändern. Sie hatte sich mit dem Rücken zum Spiegel angezogen, weil sie sich
schon beim ersten Blick richtig sehen wollte in dem Kleid. Am Ausschnitt
zupfen, die Taille richten, den Stoff glatt streichen, durchatmen - umdrehen.
Sie wusste
sofort, dass es eine dumme Idee gewesen war, ein solches Kleid haben zu wollen.
Es saß nicht richtig. Sie hatte nun einmal breite Schultern und wenig Taille.
Etuikleider sahen gut aus an ihr, dieses Kleid war für einen weiblicheren
Körper geschnitten. Aber das war nicht das Problem. Die ganze Idee war
idiotisch. Sie setzte sich auf den Hocker in der Umkleidekabine und weinte.
Die
Verkäuferin klopfte an die Tür. «Ist alles in Ordnung?», fragte sie. «Alles in
Ordnung.»
«Und das
Kleid?»
«Es passt
nicht.»
«Wollen
Sie nicht herauskommen, damit ich es mir ansehen kann?»
«Nein.»
Esther
blieb eine Weile sitzen, bis die Verkäuferin wieder klopfte. Sie zog sich an,
verließ die Kabine und den Laden. Sie setzte sich auf eine Bank auf dem Gendarmenmarkt
und wählte die Nummer von Tauber. «Hier ist Esther», sagte sie.
«Esther.
Wo bist du?»
«In
Berlin.»
«Geht es
dir gut?» Seine Stimme klang anders als sonst, rauer, aber nicht so tief. «Ja.
Wie geht es dir?»
«Gut. Das
Bein tut manchmal weh, aber es wird nichts zurückbleiben.»
«Ich
möchte dich gern besuchen.»
«Das ist
eine gute Idee.»
«Wann soll
ich kommen?»
«Ich frage
Rebecca, dann rufe ich dich an, ja?»
«Ja.»
Sie blieb
eine Weile auf der Bank sitzen und wartete auf seinen Anruf. Jemand spielte
Akkordeon. Ihr Handy klingelte nicht.
Esther zog
den ganzen Nachmittag durch Berlin, aß ein Eis, kaufte nichts. Abends saß sie
in einem Restaurant in der Reinhardtstraße, bestellte das Menü mit vier Gängen
und aß langsam und
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