Kurier
führen: Wenn ich Graus Geschichte nachzeichne,
so nur deshalb, weil sie mit dem, was später vor dem Untersuchungsausschuss
aufgerollt wurde, nicht mehr viel zu tun hat – was bei vielen Ausschüssen so
ist, die zur Klärung eines Skandals eingesetzt werden.
Es gibt Handlungsstränge im Rahmen dieser Geschichte, die
Grau als mein weiß Gott nicht gerade perfekter Held nur am Rande wahrnehmen
konnte, deren Feinheiten und Auswirkungen er gar nicht begriff, weil er selbst
nicht daran beteiligt war. Er schlug sich gerade in Berlin mit den verschwundenen
zehn Millionen Dollar und fünfzig Pfund Kokain herum, während zeitgleich im
Regierungsapparat des rheinischen Bonn ein erstklassiger Skandal hochköchelte.
Aber wir wollten doch Leichen zählen …
Hier ist Leiche Nummer vier: Der achtundzwanzigjährige
Ulrich Steeben, promoviert, zuletzt Kurier des Auswärtigen Amtes, war von der
Bildfläche verschwunden, um dann als wahrhaftig grauenerregender Toter in
Berlin wieder aufzutauchen, sein Geschlechtsteil im Mund. Dummerweise war er
auch noch unter dem verwirrenden Decknamen Markus Schawer zur Leiche geworden.
Der Skandal begann damit, dass Graus Kollegin Helga Friese
in ihrer unnachahmlichen, rotzfrech-naiven Art im Auswärtigen Amt nachfragte,
wo denn der Kurier Steeben sei, Vorname Ulrich. Sie war zunächst nicht mit der
Pressestelle verbunden worden, sondern mit dem sogenannten Abwiegler, einem
äußerst präzise funktionierenden langjährigen Bediensteten des Amtes. Der wusste
natürlich von nichts, und ein Mann namens Steeben war ihm gänzlich unbekannt.
Als dann die gut gelaunte Helga wörtlich formulierte: »Ach,
das ist aber interessant, ich habe nämlich hier in Berlin seine Leiche
gefunden«, wusste der Mann natürlich sofort: Das bedeutet Ärger! Er bat Helga
Friese sehr freundlich, in einer Stunde noch einmal anzurufen. Er würde sich in
der Zwischenzeit kundig machen.
Das tat er nicht, er marschierte stattdessen energisch zu
seinem Referatsleiter und trompetete: »Falls uns ein Steeben abgängig ist,
sollten wir überlegen, was wir jetzt sagen. Irgendeine dumme Pressetussi hat
nämlich gerade in Berlin seine Leiche gefunden. Er ist durch eine Reihe von
Messerstichen getötet worden. Genau siebzehn. Und er hatte sein bestes Stück im
Mund.«
Nach dieser Eröffnung ließ sich der Referatsleiter von
den zuständigen Abteilungen alles Wissenswerte über diesen Ulrich Steeben zusammentragen.
Zunächst einmal kam er zu der unangenehmen Erkenntnis, dass es tatsächlich
einen Ulrich Steeben gab. Dann musste er nach Sachlage feststellen, dass dieser
Ulrich Steeben entweder im Bereitschaftsraum sein musste oder aber zu Hause.
Steeben war jedoch nicht aufzufinden, und zunächst gab es auch niemand, der ihn
ernsthaft vermisste.
Dann entdeckte er die Koffer, oder besser gesagt, eine
Aktennotiz, die eine höchst bemerkenswerte Geschichte über vier Kurierkoffer
erzählte. Demnach hätte Steeben auf dem Rückflug von der üblichen Amerika-Route
vier Koffer mit diplomatischer Post mitbringen müssen. Hatte er aber nicht.
Nirgendwo fand sich ein Eintrag, dass besagter Steeben mitsamt ebendiesen
Koffern eingetroffen war.
Aber: Anruf vom Pförtner, dass bei ihm vier Diplomatenkoffer
herumstünden, die jemand aus Berlin geschickt hätte. Wie waren die Koffer nach
Berlin gekommen? Was hatte dieser Steeben dort zu suchen gehabt? Der
Referatsleiter begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen.
Zu diesem Zeitpunkt rief Helga Friese zum zweiten Mal im
Auswärtigen Amt an und wurde von der inzwischen präparierten Zentrale in die
Presseabteilung durchgestellt. Man verband sie mit einem Mann, der nicht zur
Presseabteilung gehörte, aber eine gehörige Portion Erfahrung im Umgang mit
heißen Eisen hatte.
Dieser Mann behandelte Helga sehr freundlich und kollegial
und versicherte ihr, es gäbe im Auswärtigen Amt keinen Mitarbeiter mit Namen
Steeben. Er hielt sich für witzig, als er sagte: »Weder unter uns Pförtnern,
Frau Kollegin, noch beim Kantinenpersonal haben wir diesen Namen gefunden. Es muss
sich um eine Verwechslung handeln.«
Nun war dem Referatsleiter bekannt, dass Steeben in Bonn
in der Beethovenstraße eine Wohnung hatte. Also wurde zunächst ein Hausmeister
dorthin geschickt, um das Namensschild von der Klingelanlage zu entfernen. Des Weiteren
wurde vorsorglich ein um drei Wochen rückdatiertes Kündigungsschreiben des
Ulrich Steeben an die Wohnungsverwaltungsgesellschaft entworfen, ausgedruckt
und
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