Kurier
Furcht Ihres Gegenübers besonders groß ist, sollten wiederum
Sie besonders vorsichtig sein.«
Grau lächelte leicht. »Ich verlasse mich darauf, dass mir
irgendetwas einfällt.«
Hector strahlte, befingerte seine Fliege und sah eine Sekunde
lang wie der Lieblingszauberer aller Kinder aus.
»Eine kluge Bemerkung, mein Lieber, nur vollkommen neben
der Spur. Diese Szene lebt von der Angst, und die Angst gebiert unaufhörlich
Gewalt. Also sollten Sie Gewalt austeilen, schnell und ohne Rücksicht und ohne
zu fragen.«
»Bis jetzt waren Sie ein kluger, amüsanter Mann«, sagte
Grau gereizt, »jetzt werden Sie langsam unklug. Wie soll ich denn bitte schön
Gewalt ausüben, wenn ich nicht gewalttätig bin und es auch nicht sein will? Ich
gehe dorthin und werde als Journalist arbeiten. Ich fahre nicht mit dem Maschinengewehr
nach Berlin.«
Hector nickte und fixierte einen fernen Punkt hinter
Graus Schulter. »Das gefällt mir schon besser«, sagte er heiter.
»Selbstverständlich teilen Sie normalerweise keine Gewalt aus. Aber es kann in
Berlin eben der Fall eintreten, dass Sie an Gewalt denken müssen, weil die
Situation einfach nicht anders zu bewältigen ist. Dann rate ich zu schneller
Gewalt, bloß keine großen Vorankündigungen.
Bedenken Sie, dass die Szene, in der Sie leben werden,
sich auf Gewalt geradezu verlässt. Das heißt: Gewalt ist dort eine Umgangsform,
auch wenn uns das hier roh und dumm erscheinen mag. Sie werden auf viele
Gruppen treffen. Das Hauptmerkmal dieser Gruppen besteht darin, dass man auf
den ersten Blick nicht erkennen kann, wie sie strukturiert sind. Wenn Sie aber
darauf achten, wer auf wen ängstlich reagiert, werden Sie schnell begreifen,
wer in dieser Szene welche Rolle spielt. Die Kleinen fürchten sich dort grundsätzlich
vor den Großen. Das gilt selbstverständlich auch für das Verhältnis der Gruppen
untereinander. Achten Sie einfach darauf, wer ängstlich reagiert, dann werden
Sie wissen, wer die Macht hat. Leuchtet Ihnen das ein?«
Grau nickte gehorsam, sagte aber nichts.
»Ich habe mir Gedanken über Sie gemacht«, fuhr dieser erstaunliche
kleine Mann fort. »Ich dachte mir: Wie kann man ihm helfen? Haben Sie jemals
mit einem Schatten gearbeitet?«
»Was um alles in der Welt ist denn ein Schatten?«
»Ein Schatten ist ein Mensch, der einfach da ist. Eben
wie ein Schatten. Den wird man ja auch nicht los. Sie sollten also unbedingt
einen Schatten haben.«
»Also so was wie einen Aufpasser?«
»O nein!« Hector strahlte. »Es muss jemand sein, den Sie
ordentlich bezahlen dafür, dass er einfach da ist. Kein Außenstehender darf
erkennen, dass er Ihr Schatten ist. Kapiert?«
»Das kapiere ich, das leuchtet ein.«
»Gut. Und hier habe ich noch ein kleines Mitbringsel für
Sie, das Sie unbedingt mitnehmen sollten …«
Völlig ungerührt legte Hector eine Waffe auf den Tisch.
Grau dachte an die B-Filmchen, die er sich manchmal anschaute. Das musste ein
Colt sein.
»Das Mitbringsel ist amerikanisch und sehr solide. Ein
Colt Masterpiecespecial, selbst für einen Anfänger kinderleicht zu handhaben.
Dieser Waffenschein hier ist auf Ihren Namen ausgestellt. Er trägt sämtliche
Unterschriften und Stempel der zuständigen Behörden in Bonn. Hier sind auch
noch zwei Pillendöschen.
Die eine, die grüne, enthält Kapseln mit jeweils zwanzig
Milligramm Valium. Falls Sie mal auf hundertachtzig kommen, sollten Sie eine
nehmen. In der zweiten Schachtel, der roten, befindet sich ein
Ephedrinkonzentrat. Ephedrin ist im Normalfall ein stark krampflösendes Mittel
bei Husten und Erkältung, es wirkt aber auch aufputschend. Man nennt es Speed.
Damit hat der Pauker seine Schuldigkeit getan.«
»Glauben Sie ernsthaft, dass ich schießen werde?«, fragte
Grau nachdenklich.
Hector stand auf und sagte mit feinem Lächeln: »Indiskretion
ist nicht meine Sache, ich hasse das eigentlich. Aber selbstverständlich habe
ich Ihre Akte gelesen. Sie haben den Dealer Ihrer Tochter in Frankfurt zum
Krüppel geschlagen …«
»Nicht schon wieder!«, schrie Grau.
Einen Augenblick lang herrschte gespannte Stille.
Hector hatte plötzlich ein Gesicht wie aus Stein. »Sie haben
sie geliebt, ich weiß. Sie leiden immer noch, nicht wahr? Nun, Sie gehen jetzt
in diese Welt von damals zurück, und ich möchte vermeiden, dass Sie sich etwas
vormachen. Das wird selbstverständlich kein normales journalistisches Unternehmen.
Bevor Sie also irgendetwas tun, bevor Sie auch nur
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