Kurpfalzblues
Boot sehen, das langsam auf das Ufer zukam.
Nebelschwaden trieben über dem Fluss. Eine Fähre, die sich schließlich aus dem
weißen Dunst löste und anlegte. Außer dem Fährmann war niemand darauf zu sehen.
Er war dünn und hager wie ein Skelett, hatte eine schwarze Kutte an,
die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Eine Schiffsglocke läutete. Das Seil an
ihr baumelte hin und her, ohne dass jemand zu sehen war.
»Einsteigen«, hallte es am Ufer entlang.
Die Frau kam wie aus dem Nichts. Sie lief, so schnell sie konnte,
auf die Anlegestelle zu, stolperte, fing sich mit Müh und Not, rannte weiter.
»Bitte warten Sie«, rief sie verzweifelt. »Bitte, ich muss unbedingt
mit! Ich habe eine Verabredung!«
Sie stürmte den kurzen Steg entlang.
Der Fährmann stand ganz vorn auf dem Boot, groß und starr.
»Du kommst spät.« Seine Stimme klang hart und unerbittlich.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich die Frau. »Wirklich. Ich
wollte ja anrufen, aber ich habe mein Handy verloren. Bitte, bitte, ich muss
mit!«
Wortlos streckte der Fährmann die offene Hand aus. Sie war knochig,
die Haut bläulich fahl. Die Frau suchte hektisch in ihrer Tasche.
»Ich glaube, ich habe auch mein Portemonnaie verloren. Ich … ich
finde es nicht.« Sie suchte immer verzweifelter, die Tränen liefen ihr über das
Gesicht. »Lassen Sie mich doch nur das eine Mal umsonst mitfahren, bitte!«
Der Fährmann stand immer noch mit ausgestreckter Hand da, ohne sich
zu rühren. Aber schon begann die Fähre fast unmerklich, sich vom Ufer zu lösen.
»Bitte, bitte, warten Sie doch!«, rief die Frau. »Irgendwo habe ich
bestimmt noch ein paar Münzen. Bitte, bitte! Er wartet doch auf mich!«
Ganz langsam verschwand das Boot im Nebel, löste sich nach und nach
darin auf. Nur die Schiffsglocke war zu hören, die immer leiser wurde.
Die Frau brach schluchzend am Ufer zusammen. Eine Weile lag sie da,
dann ging sie mit gesenktem Kopf zum Ufer, Schritt für Schritt, bis in das
Wasser hinein.
Maria schrie. »Nicht! Bleib stehen!«
Doch die Frau ging unbeirrt weiter, als würde sie von einer
magischen Kraft angezogen, ging so lange weiter, bis das Wasser ihre Brust
bedeckte und ihr Kopf in den Fluten verschwunden war.
»Nicht! Komm zurück!«
Maria schreckte hoch. Sabine. Es war Sabine gewesen. Sabine war tot.
Ihr Herz raste. Sie musste ein paarmal tief durchatmen, bis der
Traum sich aufgelöst hatte.
Natürlich war Sabine nicht tot.
Maria ließ sich zurück ins Kissen fallen. Was für ein Blödsinn.
Leise klopfte es an der Schlafzimmertür. Arthur steckte den Kopf
herein.
»Alles in Ordnung, Maria? Du hast geschrien.«
»Ja, ja. Nur so ein dummer Traum. Stell dir vor, Sabine wollte mit
der Fähre über den Neckar, aber sie hatte kein …«
Das Fährgeld. Maria stockte. Das Centstück, das Lea Rinkner im Mund
gehabt hatte.
Zur Fähre geleitet … der Weg ist bereitet!
»Was ist denn?« Arthur schaute sie besorgt an. »Du siehst aus, als
hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Dafür brauchte sie den Cent«, murmelte Maria. »Sie muss über den
Fluss!«
Göttergrüße
Maria sprang aus dem Bett. »Komm mit, schnell!«
Sie eilte in das kleine Arbeitszimmer, in dem ihr PC stand.
»Vera musste in der Schule einmal ein Referat über griechische
Mythologie halten. Die Hälfte davon habe ich geschrieben.«
»Von was redest du?« Arthur folgte ihr, in Unterhose und T-Shirt.
»Da gab es doch diesen Fährmann.« Maria setzte sich vor den Computer
und schaltete ihn ein. »Der hat die Toten über einen Fluss gebracht. Und als
Fährgeld hat man ihnen eine Münze in den Mund gesteckt.«
Sie ging ins Internet. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis die
Suchmaschine ausspuckte, was sie wissen wollte.
»Siehst du, da steht es: der Obolus. Eine Münze von geringem Wert. Dafür
hat der Fährmann die Verstorbenen über den Totenfluss Styx in das Reich der
Toten gebracht. Die Münze hat man ihnen als Grabbeigabe unter die Zunge
gelegt.«
Arthur beugte sich über ihre Schulter. »Du meinst, dafür war der
Cent, den Lea Rinkner im Mund hatte? Das war das Geld für die Fähre?«
»Das würde doch passen. Und im Gedicht steht, er steigt aus dem
›Schattenreich‹. Das ist das Reich der Toten!«
»Gib es doch mal ein.«
Beide schauten gebannt auf den Bildschirm.
»Hier, ›Schattenreich‹, ›Ort der Toten‹, siehe ›Hades‹.« Maria
klickte weiter. »›Hades, ein Begriff für die Unterwelt, aber auch für den Gott
der Unterwelt.‹«
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