Kurs auf Spaniens Kueste
zunächst schwer feststellen — schließlich war die Fregatte nur ein ferner, heller, dreigeteilter Fleck am Horizont, unter dem ein dunkler Schatten sichtbar wurde, wenn eines der beiden Schiffe auf einen Wellenkamm stieg; aber nach einer Dreiviertelstunde blieb ihr Rumpf fast die ganze Zeit auch vom Achterdeck aus sichtbar, und Jack ließ das altmodische Spriettoppsegel setzen und einen weiteren halben Strich abdrehen.
An der Heckreling erklärte Mowett gerade Stephen die Funktion dieses Segels, denn die Sophie setzte es fliegend, mit einem Stropp zur Nock des Bugspriets, der in einem eisernen Traveller lief, eine für ein Kriegsschiff ungewöhnliche Vorrichtung. Jack stand beim achtersten Vierpfünder an Steuerbord, beobachtete mit Argusaugen jede Bewegung an Bord der Fregatte und schätzte im Geist die Risiken ab, wenn er bei dem auffrischenden Wind auch noch die Bram-Leesegel setzen ließ. Da erhob sich auf dem Vorschiff plötzlich ein wirres Geschrei, aus dem nur der Ruf »Mann über Bord!« zu verstehen war. Fast im selben Moment sah er, wie Henry Ellis von der glatten, schnellen Bugwelle am Rumpf vorbeigerissen wurde, das baß erstaunte Gesicht starrte bleich zu ihnen herauf. Mowett warf ihm sofort ein Fall des leeren Davits zu. Ellis reckte beide Arme nach der fliegenden Leine, sein Kopf geriet unter Wasser — die Hände griffen daneben. Im nächsten Augenblick trieb er schon weit achteraus, ein dunkler, im Kielwasser tanzender Fleck.
Jeder Mann an Bord wandte sich Jack zu, dessen Gesicht zu Stein wurde. Sein Blick flog von dem Jungen zu der mit acht Knoten aufkommenden Fregatte. In zehn Minuten würden sie eine Meile und mehr verlieren: das Chaos der backstehenden Leesegel, die lange Zeit, ehe sie wieder Fahrt aufnehmen konnten — neunzig Menschen in Lebensgefahr. Diese Überlegungen und eine ganze Reihe anderer zuckten fast gleichzeitig durch seinen Kopf: Er spürte die gespannte Intensität der auf ihn gerichteten Blicke, erinnerte sich an Ellis' unsympathische Eltern, vergegenwärtigte sich seinen Status als Gast an Bord und Molly Hartes Fürsprache — alles in der atemlosen Sekunde, bevor er wieder Luft holte.
»Jolle aussetzen«, befahl er heiser. »Wahrschau vorn und achtern. Wahrschau! Mr. Marshall, drehen Sie bei.«
Die Sophie schoß in den Wind, die Jolle klatschte ins Wasser. Zu befehlen gab es nur wenig. Die Rahen flogen herum, die eben noch weit ausgebreiteten Segel sanken zusammen, Fallen, Halsen, Geitaue und Schoten rauschten durch ihre Blöcke, ohne daß viele Worte nötig gewesen wären, und selbst noch in seiner kalten, schwarzen Wut spürte Jack Genugtuung über den glatten, kompetenten Ablauf des Manövers.
Quälend langsam kroch die Jolle über die See, um die weite Kurve von Sophies Kielwasser zu kreuzen, viel zu langsam. Die Männer starrten übers Dollbord ins Wasser, stocherten mit einem Bootshaken darin herum. Sie schienen kein Ende finden zu wollen. Endlich machten sie kehrt. Als sie ein Viertel des Rückwegs geschafft hatten, sah Jack im Glas alle Bootsgasten wie Dominosteine Umfallen: Stroke hatte mit so viel Kraft gepullt, daß sein Riemen gebrochen und er nach hinten gestürzt war.
»Jesus, Maria ...«, knirschte Dillon neben Jack.
Die Sophie hatte schon wieder Ruderfahrt aufgenommen, als die Jolle längsseits kam und der reglose Junge an Deck gehoben wurde.
»Tot«, sagten sie. »Segel setzen«, sagte Jack.
Wieder wurden die Manöver schnell und fast schweigend ausgeführt. Zu schnell. Denn kaum waren sie auf dem alten Kurs, mit erst halb soviel Fahrt wie zuvor, als ein reißendes Krachen ertönte und die Vorbramrah in ihren Kettenschlingen brach.
Jetzt prasselten die Kommandos. Stephen blickte vom nassen Körper des Jungen zu Jack auf, hörte, wie er Dillon mit einer Serie nautischer Befehle überschüttete und wie dieser sie mit doppelter Lautstärke durch seinen Sprechtrichter an den Bootsmann und an die nach oben hastenden Vortoppgasten weitergab; wie Jack dem Zimmermann und seinen Leuten eine Reihe technischer Anweisungen gab; wie er die nun andersartigen Kräfte berechnete, die auf die Slup einwirkten, und dem Rudergänger einen neuen Kurs nannte; und er sah, wie Jack über die Schulter einen Blick auf die Fregatte warf und sich dann mit konzentrierter Aufmerksamkeit dem Jungen zuwandte.
»Können Sie noch etwas für ihn tun?« fragte er Stephen. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Sein Herz schlägt nicht mehr«, antwortete der Arzt. »Aber ich möchte noch etwas
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