Kurs Minosmond
andere, denen alle Pflanzen eingehen. Und selbstverständlich die ganze Skala, die zwischen den Extremen liegt. Ich gehöre zu denen, die sich mit Pflanzen gut verstehen. Ja, wenn Sie wollen, auch im Sinne von: verständigen können. Allerdings nicht ohne Vermittlung. Wir nutzen die geringen elektrischen Potentialschwankungen, die alle Pflanzen haben und die man mit einem EEG-ähnlichen Gerät abnehmen kann. Wir haben dazu in der Algenanlage einen kleinen Ring mit speziellen Abmessungen installiert, dort nehmen wir ab. Und wenn ich mir die – inzwischen verstärkten – Potentiale an den Kopf lege, kann ich ziemlich zuverlässige Aussagen über den Zustand der Algen machen. Eine relativ heftige Potentialschwankung entsteht, wenn die Zelle stirbt – das bezeichnen wir als Todesschrei. Bei einer einzelnen wird dies freilich nicht bemerkt, aber wenn der ganze Ring stirbt, dann holt mich das sogar aus dem Nirwana zurück.“
„Und Sie glauben, daß sich ein Teil dieser toten Algen regenerieren läßt?“
„Nein, die nicht. Wir haben aber noch einen Notgroschen. Schonend eingefrostet. Aus dem können wir neue Stämme ziehen.“
Notgroschen, was für ein seltsames Wort! dachte Ruben. Was es bedeuten sollte, war ja klar, Not auch, aber was war ein Groschen? Egal – alte Leute benutzten manchmal noch Wörter, die eigentlich schon ausgestorben waren, das hatte er schon ein paarmal erlebt.
„Wollten wir nicht einen Plan machen?“ fragte er.
Joan verzog das Gesicht. „Sind Sie denn gar nicht neugierig, wie wir hier leben?“
Ruben sah sie voll an – jetzt lächelte sie, und jetzt zum erstenmal sah er ihr auch ihr Alter an.
„Neugierig schon“, sagte er, „aber ich fürchte, mir fallen die wirklich wichtigen Fragen so schnell nicht ein. Dazu müßte ich länger hier sein. Und arbeiten. Nach meiner Erfahrung kommt man einer Sache nur auf den Grund, wenn man in ihr handelt. Mit vollem Einsatz.“
„Stimmt“, sagte sie. „Machen wir also unsern Plan.“ Gegen Morgen hatte sich der Sturm so weit gelegt, daß das Dämmerlicht der aufgehenden Sonne in die Station drang. Zehn Minuten darauf sprachen die Geräte an, die die Tätigkeit der Sonnenkollektoren anzeigten – die Morgenaggregate standen fast senkrecht und brauchten nicht erst vom Sand befreit zu werden. Ruben ging ins Raumschiff, schaltete das Triebwerk ab und packte Verpflegung für einige Tage ein; denn in der Station würden die Algen erst in drei, vier Tagen wieder anfangen, Nahrung und Sauerstoff zu liefern.
Die neuen Algen anzusetzen war eine Laborarbeit, bei der Ruben nur Hilfestellung leisten konnte: das Wasser und die leere Anlage reinigen, verschiedene geheimnisvolle Pülverchen abwiegen, mit denen die Startbedingungen für die neue Algenzucht hergestellt wurden, das Wasser wieder einfüllen. Und dann konnte er nur noch zusehen: Joan füllte eine Portion Algen zuerst in den Ring, klemmte Elektroden daran und legte sich einen Reif um den Kopf. Wohl eine Stunde lang saß sie unbeweglich da, dann setzte sie den Reif ab und sagte zu Ruben: „Sie kommen.“ Sie sah glücklich, aber auch erschöpft aus.
Vormittags begannen sie, die anderen Sonnenkollektoren zu reinigen; das waren große Flächen von Thermowandlern, auf denen sich der Sandstaub abgesetzt hatte, und sie gingen auf die urtümlichste Weise zu Werke, die sich denken läßt: mit einer Art Besen, den man aber nur sehr vorsichtig bewegen durfte. Denn es nützte nichts, wenn der Staub nur aufgewirbelt wurde; er setzte sich dann hinter ihnen wieder auf den Flächen ab.
Bei solcher Arbeit laufen die Gedanken, wohin sie wollen. Ruben wurde sich bewußt, daß alles, was er hier erlebt hatte, seiner bisherigen Vorstellung von einer Marsstation widersprach. Geprägt war diese Vorstellung aber von den volltechnisierten Systemen eines Raumschiffs, wo man dem Menschen nur wenig überlassen konnte, oder von denen auf dem Mond, wo sie gleichzeitig produktiven, wissenschaftlichen und sogar touristischen Zwecken dienten. Hier dagegen – und wohl auch auf der Venus – wurden die natürlichen Organe des Menschen weit mehr beansprucht, Arme und Beine und Herz und Lunge und vor allem das komplizierteste und wirksamste Organ: das Gehirn.
6
Es war inzwischen Ende Mai geworden, und der heraufkommende Juni kündigte sich in Berlin mit einer ersten Hitzewelle an. Wenzel hatte schlecht geschlafen, und der allmorgendliche Dreitausendmeterlauf löste heute nicht das Unbehagen auf, das ihn beim Erwachen
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