Kurs Sol-System
kompromißlos waren sie gegen die Kalosaren vorgegangen: Von den fast dreihundert Kriegern, die sie über die Notrutsche von Bord geworfen hatten, waren fast zwei Drittel tot gewesen.
Seit fünf Tagen gab es nur noch das Widerstandsnest in der Kombüse und den Vorrats- und Kühlkammern. Vor drei Tagen hatten die Krieger dort sich zu einem Ausfall hinreißen lassen. Der kostete vierzig Kalosaren und drei Menschen das Leben, brachte den Barbaren aber neun Geiseln ein. Seit zwei Tagen wurde verhandelt. Jede Minute konnte die Entscheidung fallen – in der Privatsuite von Primoberst Joseph Nigeryan.
Moses flatterte zur Armlehne seines Herrn hoch und begann an dessen Beerenzweig herumzupicken. Halbherzig verscheuchte Yaku ihn. Der Rabe drehte eine Runde durch die leere Zentrale, landete wieder auf der Armlehne und pickte erneut nach Yakus Beeren. Und während er so pickte, mußte der Mann von Doxa IV plötzlich an seine verstorbene Frau denken. Wie ein Stich ging es ihm durchs Herz, und von jetzt auf nun stand ihr Bild vor ihm. Elsa mit ihren sanften Augen und ihren vollen Lippen … Elsa, wie sie lächelte … Elsa, wie sie mit Moses scherzte, während sie ihn fütterte …
Sie hatte den Raben einst von einer Reise nach Terra Sekunda mitgebracht. Da war er noch ein Jungvogel mit flaumigem Gefieder gewesen. Auf einem Markt in der Altstadt von Kentaur war er ihr zugeflogen. Das war fast zwanzig Jahre her. Elsa hatte den Raben geliebt, und der Rabe hatte sie geliebt.
Yaku überließ Moses die Reste seines Frühstücks. Wie alt wurde so ein Rabenvieh überhaupt? Yaku wußte es nicht. Er legte den Kopf auf die Rücklehne und schloß die Augen. Was Elsa wohl sagen würde, wenn sie ihn so sehen könnte? Und seine Kinder – ob sie überhaupt wußten, daß er noch lebte? Vermutlich wußten sie überhaupt nichts, denn einen Fall wie seinen hielt man nach Möglichkeit aus dem Nachrichtengeschäft heraus und aus der Nachrichtenpolitik sowieso. Denn wenn so etwas erst Schule machte – einfach nicht zum Termin in den Ruhepark gehen, einfach abhauen, einfach weiterleben. Nein, die Kinder würden nicht wissen, daß er noch lebte und noch frei war und es vermutlich auch nie erfahren.
Er konzentrierte sich auf Mirjam, seine Tochter, dachte ganz fest an sie. Vielleicht spürte sie ja seine Gedanken, wer wußte das schon? Liebe konnte jede Entfernung überbrücken. Wo hatte er das gleich gelesen …?
Und dann tauchten sie auf seiner inneren Bühne auf, alle, die er liebte. Seine Enkel Jannis, Kobald und Corall jagten ihrem Affen hinterher; seine Tochter Mirjam küßte ihn zärtlich; sein Sohn Hosea überreichte ihm den dicken Schmöker über Gynäkologie, in dem er die I-Ziffern versteckt hatte; sein Sohn Jesaja stopfte den Seetang-Auflauf seiner Schwester in sich hinein; und schließlich Amoz, sein ältester Sohn – ihn sah Yaku winken, bevor er in den Gleiter stieg, der ihn zum Raumhafen brachte und zu jenem Omegaraumer, mit dem er dann in den Tod flog …
Yaku atmete tief durch. Etwas rann ihm feucht über die rechte Wange. Er öffnete das rechte Auge und wischte sich die Tränen weg. Seine Augapfelprothese konnte weiter und schärfer sehen als sein eigenes Auge, weinen jedoch konnte sie nicht. Yaku seufzte und nahm die Beine von der Instrumentenkonsole. Immerhin fühlte er wieder etwas. Ob sie auch Whisky in den Vorratskammern der RHEINGOLD eingelagert hatten? Oder wenigstens irgendeinen verdammten Schnaps?
Er blickte ins VQ-Feld unter der Frontkuppel – Baumstämme groß wie Hochhäuser, Äste voller Laub, jeder Grünton, den man sich vorstellen konnte.
Er sah auf die Zeitangabe in der Fußzeile – gleich eins. Zeit, Plutejo und Venus abzulösen. Ihre Wachschicht vor dem Hauptschott zur Kombüsenabteilung neigte sich dem Ende zu.
Yaku schwang sich aus dem Sessel. Verdammte Müdigkeit! Verdammter Hunger …
Er stieg die Wendeltreppe zu Ebene I hinauf und schlurfte zum linken Hauptschott. Das war beschädigt, doch Venus, Plutejo und Cludwich hatten es notdürftig mit Blech repariert. Venus und Plutejo – das waren jetzt seine Kinder. Für sie fühlte er sich verantwortlich.
Auf der Schmalseite der Galerie, an der hinteren Balustrade, öffnete sich eine Luke. Yaku blieb stehen und spähte hinüber. Der Rotschopf Bergen zeigte sich als erster. Der schwarze Nigeryan folgte mit Carlos Rasmuth, seinem Ersten Navigator, und der Sem, seiner Zweiten Offizierin. Nach ihnen betraten Heinrich und Homer Goltz die Zentrale. Fast
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