Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
Wiebke. Die Chance, etwas über die leiblichen Eltern herauszufinden, wird mit den Jahren immer kleiner.«
Seine letzten Sätze waren klar und entschlossen durch den Hörer gedrungen. Erik merkte, dass Horner nicht die Absicht hatte, das Thema zu vertiefen. Möglicherweise ärgerte er sich bereits darüber, mit einem wildfremden Polizeibeamten über etwas derart Persönliches gesprochen zu haben.
»Habe ich Sie richtig verstanden«, fragte Horner nun, »dass Sie wissen wollen, ob Wiebke wirklich für die Mattino arbeitet? Da kann ich Sie beruhigen.«
»Dann wird es also am Montag einen Artikel in der Mattino geben, der sich mit Corinna Matteuer und dem Widerstand gegen ihre Firma beschäftigt?«
»Nein, das wird es nicht!« Horners Stimme wurde von Minute zu Minute kühler. »Aus dem Interview wurde nichts, weil die Schwester der Matteuer Selbstmord begangen hat. Das dürfte Ihnen bekannt sein.« Er wartete eine Entgegnung Eriks nicht ab. »Kein Wunder, dass Frau Matteuer nicht der Sinn nach diesem Interview stand.«
»Aber … Wiebke Reimers hat weiter recherchiert. Die Bürgerinitiative, die Demonstration gegen Matteuer-Immobilien, der Mord an einem Mitarbeiter dieser Firma …«
»Ja, sie hat mir das Thema angeboten, sogar Fotos von der Leiche, aber ich war nicht interessiert. Wir könnten es erst morgen in einer Woche bringen, aber bis dahin haben Sie den Mord vermutlich aufgeklärt. Außerdem passt diese Berichterstattung nicht in unser Blatt. Die Demonstration, die Bürgerinitiative … das sind keine Themen für die Mattino. Die Sache veränderte sich zwar, als die Simoni ins Spiel kam, aber …« Horner zögerte. »So interessant ist Sila Simoni nun auch wieder nicht.«
Erik war klar, dass der Chefredakteur seine Meinung womöglich ändern würde, wenn er wüsste, was in der vergangenen Nacht mit Sila Simoni passiert war, aber er schwieg. Stattdessen fragte er: »Dann hat sie also auf eigene Faust recherchiert?«
»Wiebke hat die Möglichkeit, das Thema einer anderen Zeitschrift anzubieten. Das steht ihr frei.« Erik hörte ein Flüstern im Hintergrund und das Rascheln von Papier in der Nähe des Telefons. »Ich hoffe, ich konnte Ihre Fragen beantworten?«, kam es freundlich, aber auch unmissverständlich durch die Leitung. »Meine Zeit ist knapp.«
Erik verstand und bedankte sich. Nachdenklich legte er den Hörer zurück. »Komisch«, murmelte er. »Sie war tatsächlich für die Mattino tätig. Aber jetzt recherchiert sie auf eigene Faust weiter. Warum?«
M amma Carlotta starrte immer noch Wiebke an, die sich nun aufrichtete, sich gegen die Tür lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. »Hier gibt’s alles Mögliche, aber keinen genießbaren Kuchen.«
Mamma Carlotta hatte ein Paket mit Keksen gefunden, die Tove manchmal, wenn er es gut mit seinen Gästen meinte, neben die Kaffeetassen legte. Er hatte es schon lange nicht mehr getan, fiel ihr auf, die Kekse waren vermutlich uralt. Wahrscheinlich hatte Tove selbst längst vergessen, dass sie hier lagerten.
»Die können Sie essen«, sagte sie und hielt das Paket hoch. »Besser als gar nichts.«
Mamma Carlotta machte einen Schritt auf Wiebke zu, damit sie den Ausgang freigab. Aber sie rührte sich nicht. »Was ich immer schon fragen wollte, Signora«, begann sie. »Ihr Schwiegersohn …«
Mamma Carlotta schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Pscht!« Es waren Schritte zu hören, die sich auf die Tür des Vorratsraums zubewegten, hinter der sie sich befanden. Vorsichtige, leise Schritte.
»Da kommt jemand«, sagte Mamma Carlotta hastig. »Vielleicht ein Gast?«
Auch Wiebke lauschte. Sie griff zur Klinke, aber irgendetwas hielt sie davon ab, die Tür zu öffnen und nachzusehen, wer Käptens Kajüte betreten hatte.
Mamma Carlotta spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Die Enge dieses Raums, die Tür, die ihr versperrt war, die Schritte davor … Sie machte Anstalten, Wiebke zur Seite zu schieben, sie wegzudrängen, falls sie sich weigern sollte, sie war sogar bereit, Gewalt anzuwenden, um aus diesem Raum herauszukommen … da hörte sie ein Geräusch, das sie an den Fleck nagelte.
Auch Wiebke erstarrte. »Was war das?«
Sie wusste es genauso wie Mamma Carlotta. Das Geräusch war unmissverständlich gewesen. Jemand hatte den Schlüssel im Schloss gedreht. Sie waren eingesperrt worden. Aber von wem? Und warum?
Wiebke fuhr herum und rüttelte an der Klinke. »Aufmachen!«, schrie sie. »Sofort aufmachen!«
Auf der anderen
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