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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Neureiter
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Fass. Ehe sie das Mädchen fragen konnte, wie sie dazu komme, dieses Motiv zu malen, sprang die Mutter auf und lief mit Kristl ins Haus. Beppo und Jenny folgten ihnen. Kaum betraten sie die Stube, in der Martha und Kristl Zuflucht gesucht hatten, brach es aus der Frau heraus: Seit Jahren führte sie Peter Mitterer den Haushalt. Damit besserte sie sich die geringfügige Pension, die sie seit dem Tod ihres Mannes erhielt, auf. Der Verdienst im Buschenschank war saisonabhängig und nur ein kleines Zubrot. Sie hatte im Haus des Malers freie Hand gehabt, nur ein Raum war tabu: das Atelier. Er hatte ihr streng verboten, es zu betreten. Dort aufzuräumen, sei seine Sache. Martha hatte sich nichts dabei gedacht. Ihr schien es normal, dass ein Künstler eigen war. Irgendwann hatte sie doch das Atelier betreten. Sie hatte einen Schlüssel zu Mitterers Haus und war in seiner Abwesenheit zugange. Eines Tages fand sie die Tür zum Atelier unversperrt und konnte der Versuchung, es zu betreten, nicht widerstehen.
    Zunächst war ihr nichts Ungewöhnliches aufgefallen. An den Wänden standen Bilder mit Landschaftsmotiven – so wie sie sie von vielen Werken des Malers kannte. Allerdings fiel ihr ein Bild auf, das sich von den anderen unterschied: Es war kleiner und anstatt auf Leinwand auf Holz gemalt. Das Auffallendste war das Motiv: Es zeigte keine Landschaft, nicht einmal ein Gebäude, sondern einen Mann. Er befand sich offenbar auf dem Meer, die Arme und Beine hatte er um ein Fass geklammert. Das Gesicht war dem Betrachter zugewandt, sodass man es deutlich sehen konnte.
    »Ein Auge war geschlossen. Daran erinnere ich mich genau«, beendete Martha ihre Erzählung. Gebannt hatte Jenny zugehört. Bestand die Möglichkeit, dass dieses Bild, das angeblich bei einem Brand zerstört worden war, in Wirklichkeit noch existierte? Wenn das der Fall war, dann wäre bewiesen, dass es sich bei den Zeilen in Oswalds Liedern nicht – wie bisher angenommen – um dichterische Fiktion, sondern um ein tatsächliches Erlebnis handelte. Eine Lücke in der Biografie des Dichters wäre damit geschlossen.
    Erneut betrachtete Jenny Kristls Zeichnung. Sie hatte dieses Motiv erst gestern gesehen. Sascha hatte es während des Konzerts auf ein Blatt Papier gekritzelt. Wie kam es, dass zwei Mädchen, die einander nicht kannten, dasselbe Bild zeichneten? Jenny wollte Kristl danach fragen und hielt ihr das Blatt hin. Doch Martha vereitelte ihr Vorhaben.
    »Du soll’sch des nit malen. Wie oft soll i dir des no sogn«, wies sie ihre Tochter zurecht.
    »Wieso nit?«
    Martha schüttelte den Kopf und wandte sich an Jenny und Beppo. »Es isch ein Gfrett 2 mit der Gitsch. Dabei bin i selber schuld«, bekannte sie. »I hett’ sie gar nit mitnemmen soll’n.«
    Schließlich erfuhren Jenny und Beppo, was sie während Marthas Erzählung zu ahnen begonnen hatten: Beim Betreten des Ateliers war das Mädchen dabei gewesen. Fasziniert von dem Bild, das sie gesehen hatte, zeichnete sie das Motiv seither immer wieder – stets bestrebt, ihr jeweils vorangegangenes Werk zu verbessern. Das Verbot ihrer Mutter ignorierte sie. Martha hatte das Kind gewähren lassen. Bis sie vor zwei Tagen den Maler tot in seinem Atelier gefunden hatte.
    »Des Bild war nimmer da. Wenn die Polizei jetzt die Zeichnung sigt, isch alles aus«, lamentierte Martha. »No moant sie, i hun des Bild g’schtolen.«
    Martha verfiel immer mehr in ihren Dialekt und Jenny hatte Mühe, ihr zu folgen. Beppo schaltete sich ein. »Warum haben Sie das nicht der Polizei gesagt?«
    Martha schnäuzte sich. »Offiziell hun i do gar nix von dem Bild g’wisst. I hun mir denkt: Sag’sch lieber nix. Son’sch moanen sie no, i han ihn am G’wissn.«
    Sie hatten sich verabschiedet. Es hätte nichts gebracht, weiter in die Frau zu dringen.
    Jenny richtete sich in ihrem Autositz auf. Beppo war noch nicht zurückgekommen. Es überraschte sie, dass Martha zu ihnen beiden mehr Vertrauen gehabt hatte als zur Polizei. Die würde den Fall mit Sicherheit in einem neuen Licht sehen, wenn sie wüsste, dass ein Bild fehlte.
    Und was für ein Bild! Oswald von Wolkenstein hatte es für seine Rettung aus Seenot gestiftet. Jenny hatte gelesen, die Forschung nahm an, dass es sich um ein Fresko handelte, das sich an der Wand der Kapelle des Brixner Domes befunden hatte – doch mit Sicherheit wusste das niemand. Ebenso gut hätte es sich um ein Gemälde handeln können, das – wie zu jener Zeit üblich – auf Holz gemalt worden

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