Kurschattenerbe
war.
Wenn es sich bei dem Bild, das Martha im Atelier des Malers gesehen hatte, tatsächlich um das Oswald-Bild handelte, konnte das nur bedeuten, dass es vor dem Brand aus dem Brixner Dom entfernt worden war.
Jenny wusste, dass es möglich war, dass Gemälde über Jahrhunderte unbeachtet aufbewahrt wurden, bevor sie plötzlich entdeckt wurden. Erst neulich hatte sie in einem Zeitungsbericht von einem wertvollen Bild gelesen, das auf einem Dachboden gefunden worden war, wo es von mehreren Generationen unbemerkt gelegen hatte. Beim Verkauf war eine hohe Summe erzielt worden. Es war denkbar, dass jemand, um in den Besitz des Oswald-Bildes zu gelangen, einen Mord beging. Doch wenn Martha und ihre Tochter es nicht waren, musste noch jemand anders von der Existenz des Gemäldes gewusst haben.
Die Wagentüre wurde aufgerissen. »Alles erledigt. Da hat’s ordentlich getuscht. Zwei Pkw sind ineinander gekracht.« Beppo startete den Motor.
»Eines hätt’ ich gerne gewusst«, sagte er unvermittelt. »Wo hat Oswald den Schiffbruch erlitten?«
»Am Schwarzen Meer.«
*
Sascha Maximowa lehnte sich gegen die Lenkstange ihres Fahrrads und schaute hinunter auf die Meraner Altstadt. Heute hatte sie es zum ersten Mal bis hierherauf geschafft. ›Tappeinerweg‹ war auf dem Schild gestanden, das sie zuvor passiert hatte. Sie glaubte sich sogar daran zu erinnern, dass sie etwas darüber gelesen hatte. Die Promenade führte etwa 100 Meter oberhalb von Meran entlang und war von dem Kurarzt Dr. Franz Tappeiner erbaut worden. Deshalb hatte man den Weg nach ihm benannt. Das war Sascha im Prinzip egal. Ihr war nur wichtig, immer zu wissen, wo sie sich befand. Denn sie konnte es sich nicht erlauben, ein Risiko einzugehen, indem sie sich zu weit von ihrem Hotel fortbewegte und somit nicht zeitgerecht zurückkam. Ihre Mutter hätte sich Sorgen um sie gemacht und ihr am Ende verboten, mit dem Rad in der Gegend herumzufahren. Das wollte sie unter allen Umständen verhindern. Gerade, wo sie so kurz vor dem Ziel war.
»Passt auf, Jungs«, hatte sie heute zu Victor und Juri gesagt, nachdem es ihr gelungen war, der Shoppingtour mit Kateryna zu entkommen, »wir machen einen Deal.« Sie erläuterte den beiden Bodyguards ihren Plan: Sie würde mit ihrem Rad eine – wie sie betonte – richtige Tour machen. Victor und Juri könnten inzwischen für das Kanurennen trainieren, das am Samstag stattfand. Um Punkt 19 Uhr würden sie sich im Hotel treffen und den Anschein erwecken, sie hätten den Nachmittag miteinander verbracht.
Die beiden Männer hatten zunächst gezögert. »Was machen wir, wenn dir etwas passiert?«, hatte Victor gefragt. Und Juri hatte die Befürchtung geäußert, dass Tony dahinterkäme.
Sascha hatte die Bedenken der beiden zerstreut. »Wenn ich will, hänge ich euch sowieso ab. So schlecht, wie ihr Rad fahrt, kommt ihr mir ohnehin nicht hinterher. Besser, wir einigen uns von vornherein«, hatte sie ihnen erklärt. Die beiden hatten sich angesehen, bis Victor ihr die Hand hinstreckte. »Dobre, abgemacht. Um sieben Uhr beim Seiteneingang zum Hotel.«
Sascha blickte wieder auf Meran hinunter. Sie war mächtig stolz auf sich, dass sie die Distanz bewältigt hatte. Ursprünglich wäre sie gerne höher hinaufgefahren, doch der Regen war ihr dazwischengekommen. Zunächst hatte sie daran gedacht umzukehren, bis sie einen Geräteschuppen entdeckt und unter dessen Vordach Schutz gefunden hatte. Nachdem die Wolken sich verzogen hatten, war sie die Serpentinen hinaufgeradelt. Zwischendurch hatte sie das Rad schieben müssen, weil die Steigung zu steil gewesen war, und ein Stück hatte sie es eine Stiege hinaufgetragen. Jetzt war sie auf dem Höhenweg angekommen.
Sie hatte vor, zum Schloss Tirol zu fahren. Dort wartete jemand auf sie. Von ihrem Standort aus gesehen schien es zum Greifen nah. Nur durfte sie sich nicht täuschen lassen. Es lag ein ordentliches Stück Weg vor ihr.
Die Kirchturmuhr schlug sechs Uhr. Für eine Fahrt zur Burg war es zu spät, wenn sie rechtzeitig zu ihrem Treffen mit Victor und Juri zurück sein wollte. Sie beschloss, ihre andere Verabredung zu vertrösten. Das, was sie vorhatte, konnte bis morgen warten.
*
Beppo Pircher hatte seinen Wagen in der Parkgarage hinter der Landesfürstlichen Burg abgestellt und ging mit weit ausholenden Schritten in die Redaktion des ›Meraner‹. Es hatte aufgehört zu regnen, der Himmel war wieder klar. Jenny hatte sich schon verabschiedet. Sie wollte zu Fuß zum Hotel
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