Kurschattenerbe
gehen. Er war ihr dankbar dafür, denn er war in Eile. Sein Chef hatte ihm für seinen Bericht einen Platz auf Seite eins freigehalten. Die anderen Seiten waren längst im Druck. Mit dem Bogen für die ›Einser‹ wartete sein Chef immer bis zum Schluss, um im Fall des Falles eine aktuelle Meldung ins Blatt zu bringen. So war es auch heute.
Beppo betrat das Bürogebäude, in dem sich die Redaktion befand.
»Griass die Beppo, ich hab alles hergerichtet. Brauchst nur deinen Bericht ins Layout hineinschreiben. Du kannst die Seite gleich an die Druckerei schicken.« Konrad Mair, der Chef vom Dienst, trat ihm aus dem Lift entgegen.
»Willst du nicht drüberschauen?«
»Na, dafür isch koa Zeit mehr. Isch auch nicht notwendig, wegen die paar Zeilen. An schian Abend.« Der Chef vom Dienst hob die Hand zum Gruß und verließ das Gebäude.
Beppo betrat den Lift und fuhr nach oben. Der PC in seinem Büro war an und die Datei mit der Seite eins geöffnet. Beppo klickte die Spalte an, die man für ihn freigehalten hatte.
›Nach Redaktionsschluss‹ schrieb er und hämmerte ein paar Zeilen in die Tastatur. Er las den Bericht durch und drückte auf ›Senden‹.
*
Tobias Winkler ging vom Pavillon des Fleurs hinüber zum Großen Kursaal. Er hatte ein wenig auf seiner Laute geübt und das Instrument in dem dafür zur Verfügung gestellten Raum untergebracht. Ob der Aufbewahrungsort sicher war oder nicht, war ihm egal. Er hatte andere Sorgen.
Wenn sich Violas Geige nicht rechtzeitig wiederfand, konnte sein Ensemble ohnehin nicht am Wettbewerb teilnehmen. Und wenn das Instrument doch auftauchte? Selbst dann nicht, wie Tobias sich eingestehen musste. Violas Spiel war inzwischen so katastrophal, dass jeder weitere Auftritt eine Blamage wäre.
Solange sie dem Tempo konstant hinterhergehinkt war, hatten sich die anderen Ensemblemitglieder darauf einstellen können. Darauf war kein Verlass mehr. Streckenweise eilte sie mit einer solchen Geschwindigkeit voraus, dass die anderen Mühe hatten, ihr zu folgen. Viola war vollkommen unberechenbar geworden.
Bis heute Morgen war es ihm noch nicht klar gewesen, mittlerweile wusste er, dass er sich nach einem Ersatz für sie würde umsehen müssen. Clara, Urs und Jean hatten ihm zu verstehen gegeben, dass sie so nicht weitermachen wollten. »Entweder wir oder Viola«, lautete das Ultimatum.
Tobias fuhr sich mit der Hand durch die Haartolle, die ihm in die Stirn gefallen waren. Er hatte keine Wahl. Wenn es sein musste, würde er kurzen Prozess machen. Es hatte keinen Sinn, die Sache hinauszuzögern. Er würde auf der Stelle mit Viola sprechen. Sie war zuvor in den Großen Kursaal hinübergegangen, wo das Symposium stattfand. Tobias hoffte, sie dort anzutreffen.
Im Kurhaus angelangt hatte er zunächst den Eindruck, dass das Gebäude leer sei. Die Vorträge waren für heute beendet, die Teilnehmer offenbar gegangen. Tobias war wieder auf dem Weg nach draußen. Plötzlich hörte er Violas Stimme aus einem der Nebenräume.
»Heute Abend entkommst du mir nicht. Ich habe große Sehnsucht nach dir.«
Tobias wartete die Antwort nicht ab. Zu ahnen, dass Viola ihre Gunst freizügig verschenkte, war eine Sache – es mit eigenen Ohren anzuhören, eine andere. Jäh wandte er sich ab und rannte so rasch er konnte aus dem Gebäude.
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1 2 Südtiroler Ausdruck für Jause
2 Südtirolerisch für Plage
NEUN
»Haben wir also einen Mord, ein verschwundenes Bild und eine gestohlene Geige«, sagte Lenz zu Jenny.
»Und Arthur, der sich nicht wieder gemeldet hat«, antwortete sie. »Ich bin sicher, dass sein Verschwinden etwas mit dem Maler zu tun hat.«
»Wohl auch mit dem Bild. Wenn es stimmt, dass es Oswald auf dem Fass zeigt …«
Jenny unterbrach Lenz. »Natürlich stimmt es. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
»Du hast das Bild gesehen? Ich dachte, es ist verschwunden.«
Jenny sah ihn an. »Lass die Scherze. Du weißt genau, was ich meine. Ich habe die Zeichnung gesehen, die Marthas Tochter angefertigt hat. Die wiederum …«
»… das Bild gesehen hat, das sich laut Angaben der Haushälterin beim Maler im Atelier befunden hat«, nahm Lenz den Faden auf. »Ehrlich gesagt«, fuhr er fort, »kann ich mir das nicht so recht vorstellen.«
»Was kannst du dir nicht vorstellen? Meinst du, ich bilde mir das alles nur ein? Kannst ja den Beppo fragen, wenn du mir nicht glaubst.«
Täuschte er sich oder war Jenny tatsächlich wieder eingeschnappt? Dazu bestand wirklich kein Anlass. Es war
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