Kurschattenerbe
wählte er eine andere Taktik: Er machte sich rar. Fortan lehnte er jede Einladung zu den zahlreichen Partys und Empfängen, die in den folgenden Tagen für die Crew auf dem Programm standen, ab. Im Gegensatz zu Tony wurde Kateryna dort allerdings häufig gesichtet, wie er von seinen Kollegen erfuhr.
»Sie hat nach jemandem Ausschau gehalten«, berichtete ihm sein Kompagnon jedes Mal.
Tony nahm diese Nachricht zufrieden zur Kenntnis und glänzte weiterhin durch Abwesenheit. Bis sein Partner mit einer neuen Meldung kam: »Die Ukrainerin hat nach dir gefragt.«
Damit war Tony fast am Ziel seiner Wünsche angelangt, doch noch ließ er sich nicht zu einer leichtsinnigen Handlung hinreißen. Er hielt sich weiterhin ausschließlich am Set und in seinem Hotel auf, sodass Kateryna so gut wie keine Chance hatte, ihm zufällig zu begegnen. Am Morgen des letzten Drehtages tauchte schließlich ein Bote auf, der Tony eine handgeschriebene Einladung überbrachte. Die Botschaft war kurz und eindeutig:
›Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir die Ehre erweisen, heute Abend in meinem Haus mit mir zu speisen.
Ihre Kateryna Maximowa.‹
Die Sache hätte nicht besser laufen können. Tony war am Ziel seiner Wünsche angelangt. So dachte er damals zumindest. Es war sein letzter Abend in Sotschi und er zweifelte nicht daran, dass er mit Kateryna einen One-Night-Stand genießen würde, der ihm ewig in Erinnerung blieb.
Die Nacht verlief genau so, wie er es sich erträumt hatte. Doch womit er nicht rechnete, war das Angebot, das Kateryna ihm am nächsten Morgen machte: »Ich werde langsam müde. Immer nur das Business. Ich will die Verantwortung nicht mehr allein tragen. Bleib hier bei mir. Werde mein Manager, mein Gefährte …«
Er hatte zugestimmt. Kateryna versüßte es ihm mit einem großzügigen Gehalt und uneingeschränktem Vertrauen. Doch er war nicht mehr sein eigener Herr. Das wurde ihm mittlerweile immer schmerzhafter bewusst und vergällte ihm die Tage. Nicht einmal körperliche Anstrengungen wie die heutige Radtour konnten seine Stimmung heben. Er kannte das Gefühl, nach einer langen, gefahrvollen Kletterpartie am Gipfel zu stehen. Das war eine Herausforderung nach seinem Geschmack.
Tony rückte sich die Fliege zurecht. Er würde Kateryna zeigen, wozu er fähig war. Wenn er nur endlich Nachricht von seinem Kontaktmann bekäme.
Wie auf Kommando begann sein Smartphone zu vibrieren. Er nahm ab und lauschte dem Anrufer. Seine Gesichtszüge entspannten sich. »O. k. Packen wir es an.« Er schob das Smartphone in die Jacke seines Dinnerjackets und verließ den Raum.
*
Jenny und Lenz hatten die Wandelhallen der Winterpromenade, in denen einst die Kurgäste auf und ab gingen und dabei schluckweise Molke oder Traubensaft tranken, hinter sich gelassen. Sie waren am Steinernen Steg angelangt. Jenny genoss diesen Spaziergang, der sie fast vergessen ließ, dass sie sich nach wie vor in den Alpen und nicht in mediterranen Gefilden befand.
»Hier beginnt die Gilfpromenade. Gehen wir weiter, zeig’ ich dir den zweitschönsten Ort von Meran.«
Jenny, die bisher fasziniert die Flusslandschaft betrachtet hatte, riss sich von dem Anblick los. Obwohl sie bereits einige Kilometer in den Beinen hatte, war sie längst nicht müde. Im Gegenteil, nach der langen Fahrt in Beppos Auto drängte es sie geradezu, sich zu bewegen. Vor allem weil sie bisher nicht dazu gekommen war, ihren beiden Lieblingssportarten, dem Laufen und Radfahren, nachzugehen. Wenn sie dazu an die ausgiebige Marend aus Südtiroler Speck, Kaminwurz’n und Bergkäse dachte, die sie bei Martha zu sich genommen hatte, konnte ein ausgiebiger Abendspaziergang nicht schaden. Außerdem hätte sie zu gerne gewusst, was Lenz unter dem ›zweitschönsten Platz‹ von Meran verstand.
»Zeigst du mir auch den schönsten Ort?«, fragte sie ihren Begleiter, während sie neben ihm unter dem kunstvoll geschmiedeten Torbogen hindurchtrat, der den Eingang zur Gilfpromenade markierte.
»Eines nach dem andern«, antwortete Lenz. »Gehen wir erst einmal in die Gilf und zur Gilfklamm.«
»Gilf, Gilfpromenade, Gilfklamm … Bald kenn ich mich nicht mehr aus. Wohin gehen wir eigentlich?« Jenny war stehengeblieben, während sie ihre Frage stellte.
Lenz legte den Arm um ihre Schultern und schob sie sanft weiter in Richtung eines grünen Pflanzenmeers, das immer üppiger zu wuchern begann.
»Siehst du da oben am Berg die Turmspitze?« Jenny bejahte und er fuhr fort: »Genau senkrecht
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