Kurschattenerbe
darunter befindet sich die Gilfklamm, eine Schlucht, in der sich die Passer zwischen den Felsen durchzwängt. Direkt vor uns ist der Zenoberg. Dort befindet sich eine Kapelle, deren Turmspitze du von hier aus sehen kannst.«
Jenny war beeindruckt. So eloquent kannte sie Lenz nicht. Obwohl Germanistik-Assistent, zeichnete er sich nicht durch geschliffene Rhetorik aus.
Seit ihrer ersten Begegnung im Vorjahr schien er sich jedoch weiterentwickelt zu haben. Zwar war er ihr gestern Abend ein wenig linkisch erschienen. Die heutige Pressekonferenz hatte er dagegen souverän bewältigt. Sogar seine etwas eigentümliche Syntax, in der er Subjekt und Prädikat vertauschte, schlug kaum mehr durch.
Er setze seine Unterrichtsstunde, wie Jenny seine Ausführungen insgeheim nannte, fort. »Wenn wir weitergehen, kommen wir zur Gilf, ein subtropischer Garten, der seinen Namen von der Klamm hat. Die Gilf und die Gilfpromenade hat ein Meraner Kurarzt angelegt. Dem verdanken wir es, dass wir heute Abend hier spazieren gehen können.«
»War der Kurarzt der Dr. Tappeiner, nach dem der Tappeinerweg benannt ist?«
Lenz verneinte. »Das hier hat ein anderer Arzt, Dr. Hans Prünster, geschaffen.« Lenz wies auf den vor ihnen liegenden Hang. »Von hier führen Serpentinen hinauf zum Tappeinerweg. Von dort kann man bis Gratsch gehen.«
»Und von da nach St. Michaela.« Jenny war der Name der Ortschaft, in der der Mord passiert war, ganz unwillkürlich herausgerutscht. Ehe sie sich weitere Gedanken über den Zusammenhang zwischen Arthurs Verschwinden und der Ermordung machen konnte, wollte sie etwas anderes wissen »Sag, Lenz, die Martha heißt doch auch Tappeiner. Ist sie vielleicht mit dem einen der beiden Kurärzte verwandt?«
Lenz lachte. »Glaub ich nicht. Ist ein sehr häufiger Name in der Gegend. Heißen hier viele so.«
Jenny bemerkte, dass Lenz wieder in seinen Word-Rap verfiel. Sie hatte festgestellt, dass ihm das meist passierte, wenn ihn etwas verunsicherte. War es die Erwähnung Marthas gewesen, die ihn aus dem Konzept gebracht hatte?
Wie um Jennys Besorgnis zu zerstreuen, fuhr Lenz in druckreifem Deutsch fort: »Dort vorn gibt es etwas ganz Besonderes: die Pflanzenfiguren. Die sollten wir uns unbedingt ansehen.« Er schlug einen Pfad ein, der entlang eines Geländers bergab führte. Jenny hörte das Plätschern deutlicher, bevor Vogelstimmen es mit lautem Zwitschern übertönten. Was für ein Paradies! Der Arzt – ob nun Prünster oder Tappeiner, Jenny war es einerlei – hatte hier ein Biotop geschaffen, das seinesgleichen suchte. Auf einer Insel, die von einem Bächlein umspült wurde, stand ein männliches Wesen eingehüllt in ein Blätterkleid. Dem Titanen Atlas gleich trug es die Weltkugel auf seinen Schultern. Oberhalb dieses grünen Kraftmenschen beäugte ein großer moosbewachsener Vogel von seinem Baum herab habichtartig die Riesenschlange, die sich mit ihrem gräsernen Leib auf der Erde wälzte.
»Figuren aus Pflanzen haben in Meran eine lange Tradition. Das Gerüst wird zuerst in der stadteigenen Schmiede angefertigt, von den Stadtgärtnern gefüllt und kunstvoll mit verschiedenen Moosen, Farnen und Ähnlichem bepflanzt.«
Lenz weiß wirklich allerhand. Er würde einen guten Fremdenführer abgeben. Oder einen Lehrer … Jenny wollte ihm gerade ein Kompliment machen. Da fiel ihr Blick auf die Infotafel, von der er abgelesen hatte. Lenz hatte offenbar bemerkt, dass sie ihm auf die Schliche gekommen war. Er grinste sie an – unverschämt, wie Jenny fand, und ziemlich sexy.
»Komm mit, wir schauen uns die Schlucht an.« Lenz war auf dem Weg, der die Insel mit den Pflanzenfiguren umrundete, zurückgegangen und erklomm Stufen, die steil nach oben führten. Während Jenny ihm folgte, bemerkte sie einen Schuppen, der sich hier zwischen hohem Buschwerk versteckte. Harke und Schaufel waren an die Wand gelehnt, daneben stand eine Schubkarre. Es handelte sich ganz offensichtlich um Werkzeuge der Stadtgärtner. Seltsam, dass sie die Geräte im Freien stehen ließen, dachte Jenny, bevor Lenz ihr zurief.
»Jenny, komm, das musst …« Das Tosen des Flusses
verschluckte den Rest des Satzes. Jenny beeilte sich, nach oben zu klettern, und erreichte die höchste der drei Aussichtsterrassen, wo Lenz auf sie wartete.
Ein gigantisches Naturschauspiel tat sich nun auf. Fast zum Greifen nahe ragte der Felsen des Zenobergs vor ihr empor. Tief unten sah Jenny die Ursache des mittlerweile nahezu ohrenbetäubenden Lärms:
Weitere Kostenlose Bücher