Kurt Ostbahn - Blutrausch
Motiv, das sich Schlauberger von unserem Kaliber, Herr Doktor, an unsere zehn Finger ausrechnen können.“
„Verstehe“, sage ich. Und hätte zu gern gewußt, ob die Bananenkisten noch an ihrem Platz im Schuppen hinter den Marshall -Boxen stehen. Denn die speckige Lederjacke des Auer Wickerl hängt nicht mehr am Haken neben der Tür.
„Wir bleiben in Verbindung“, sagt Brunner, als ich ihn mit seinen Problemen und einem kleinen Rest vom Scharlachberg alleinlasse.
„Unbedingt“, sage ich.
16
Die mörderischen Vorkommnisse im Rallye haben nicht nur meinen Terminplan durcheinandergebracht.
Als ich um halb neun in der obersten Etage des H aas -Hauses aus dem Lift steige, bin ich weder frisch geduscht noch in Schale und muß auf die Empfangsdame einen derart hilflosen und verlorenen Eindruck machen, daß sie mich sofort und wie ein Schülerlotse den ihm anvertrauten Ta-ferlklassler durch den gedämpften Trubel des Restaurants in die Bar eskortiert. Dort werde ich abgegeben. Bei Marlene, die in einem jadegrünen Kostüm und vor einem jadegrünen Cocktail auf mich wartet.
„Schön“, sagt sie nur, als ich ihr gegenübersitze und nicht weiß, wo ich anfangen soll.
Wenn ich ihr als Entschuldigung für mein Zuspätkommen die Wahrheit erzähle, wirft das kein gutes Licht auf meinen Umgang. Wenn ich mich für die halbe Wahrheit entscheide, also Mord und (versuchten) Totschlag ausspare und mich auf die sechs Stunden der ungekürzten Videofassung von Fürst Astaroths Thanksgiving-Party ausrede, könnte Marlene einen völlig falschen Eindruck von meinen religiösen und sittlichen Prinzipien bekommen, wortlos aufstehen und das Lokal und mich auf Nimmerwiedersehen verlassen. Und wenn ich ganz einfach sage, daß ich die halbe Stunde, die sie hier sitzt und auf mich wartet, damit zugebracht habe, Willie Nelson in einen Bogen Geschenkpapier zu verpacken? Das weist mich zwar als Besitzer von zwei linken Händen aus, aber jeder Mensch hat so seine Fehler, und ich finde, man sollte nicht versuchen, sie vor dem Partner zu verbergen, denn früher oder später kommen sie ohnehin ans Licht und nichts ist schlimmer als ein spätes, böses Erwachen.
Also hole ich Willie Nelson aus der Tasche, lege ihn neben Marlenes jadegrünen Drink auf den Tisch und sage, daß sie ihn auch schon vor Weihnachten auspacken darf, und, wenn es ihre Neugierde nicht anders zuläßt, sogar jetzt gleich.
Marlene äugt ungläubig auf das Päckchen.
„Für mich?“ fragt sie auf französisch.
Dann strahlt sie. So muß sie als kleines Mädchen unter ihrem kanadischen Christbaum ausgesehen haben, vorausgesetzt, zu den franko-kanadischen Kindern von Quebec kommt das Christkind und bringt, wie sich das gehört, einen Weihnachtsbaum; oder reitet da der Santa Claus auf einem singenden Rentier ein, und das ausgerechnet durch den Kamin?
Marlene reißt in Rekordzeit das unter viel Mühen und Fluchen angefertigte Päckchen auf und redet auch noch in aufgeregtem Französisch vor sich hin, als sie Willie Nelson vom Geschenkpapier befreit hat.
„Schön“, sagt sie ein zweites Mal.
Und dann weint sie, glaube ich. So genau kann ich das bei der schummrigen Beleuchtung in der Bar nicht sehen. Jedenfalls schnieft sie, nimmt ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und schneuzt sich laut und deutlich.
Sofort ist ein Kellner an unserem Tisch.
„Haben die Herrschaften noch einen Wunsch?“
Ich zähle im Stillen die Scharlachberg mit Brunner und sage zu Marlene:
„Ich glaub, wir sollten langsam was essen.“
Am reservierten Fensterplatz mit Blick auf den Stephansdom esse ich ein Steak und Marlene ein Krustenoder Schalentier, dessen Verzehr einige Vorbildung erfordert. Ich hätte das rote Monster nach den ersten gescheiterten Versuchen, durch die knochenharte Schale zum fleischigen Kern vorzudringen, ja wieder zurückgeschickt mit der Bitte um eine krustenfreie Anfänger-Version, aber Marlene kennt sich aus und holt aus dem Panzer der seltsamen Kreatur zumindest ein paar Bissen an eßbaren Weichteilen heraus.
„Ausgezeichnet“, sagt sie.
Ich bleibe skeptisch. Und halte mich an den ausgezeichneten Weißen.
Als Nachtisch gibt es Beerenmus mit Schokoladesauce und die Geschichte von Bert. Er war Jazzmusiker in Berlin. Ein großer Freigeist und Trinker und Marlenes erster Mann. Sie hat in Berlin Deutsch und Kunstgeschichte studiert, nachts zur Aufbesserung des monatlichen Schecks aus dem fernen Elternhaus in einem Club serviert und sich dort in den
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