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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kimmelmann
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Blutes ergoss sich über den Tisch. Sie konnte nicht mehr sprechen. Man hatte ihr die Zunge herausgerissen.
    Mit einem gellenden Schrei sank Tom auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Er hatte über diese Szene bei Shakespeare manchmal beiläufig hinweg gelesen, aber sie hier zu sehen, raubte ihm den Verstand. Welcher Wahnsinnige hatte diese Szenerie nachgestellt? Wer hatte dieses unschuldige Kind zu Lavinia gemacht, die von Demetrius und Chiron geschändet und verhöhnt worden war? War er nun Marcus, der auftauchte, als alles Schreckliche bereits geschehen war?

    Sag, süßes Kind, wes mitleidlose Hand
    Trennt ab und hieb so frech von deinem Stamm
    Der beiden Zweige süße Zier, die Laube,
    In deren Schatten Kön’ge gern geruht,
    Und nimmer ein so reizend Glück erstrebt
    Als halb nur deine Gunst! Was sprichst du nicht?
    Weh mir! Ein Purpurstrom von warmem Blut,
    Gleich einem Springquell, den der Wind bewegt,
    Hebt sich und fällt dir zwischen ros’gen Lippen.
    Und kommt und geht mit deinem süßen Hauch.

    Langsam erhob sich Tom, immer noch die Hände vor das Gesicht gepresst.
    „Das ist alles nur ein Traum“, sagte er mit zittriger Stimme. „Wenn ich meine Augen öffne, stehe ich auf meinem Hotelbalkon in Las Vegas.“
    Er öffnete die Augen. Tom hatte Boxer gesehen, die immer wieder aufgestanden waren, wie viele Schläge sie auch abgekommen hatten. Doch irgendwann war der eine Schlag gekommen, der alles beendet und sie ausgeknockt hatte. Tom glaubte, dass dieser Moment nun bei ihm gekommen war.
    Die Szenerie war noch dieselbe, aber es war kein Mädchen mehr, das auf der Bank saß. Es war das Skelett eines kleinen Mädchens in einem Nachthemd, das inzwischen dunkelgrau und von Spinnweben übersät war. Verfaultes Fleisch hing teilweise noch in Fetzen von ihren Knochen. Selbst in diesem Zustand konnte man noch sehen, dass das Mädchen vor seinem Tod beide Hände verloren hatte.
    In einer Explosion aus Grauen und Entsetzen machte Tom sich bereit, zu sterben. Dies konnte sein Herz nicht überleben. Er fiel mit dem Rücken gegen die angelehnte Tür, durch die er hereingekommen war. Im Fallen dachte er noch, dass er nie geglaubt hätte, an so einem grausigen Ort den letzten Atemzug zu tun. Er machte sich auf den harten Küchenbußboden gefasst, auf den er gleich aufschlagen musste.
    Er fiel ins Gras. Als er es unter sich spürte, begann er hysterisch zu lachen. Er empfand nicht einmal Verwunderung. Schließlich war es schon das zweite Mal in dieser Nacht, dass eine Tür nicht dorthin geführt hatte, wohin er gehen wollte.

    Eine Weile lag er einfach nur so da und ließ die Augen geschlossen. Wenn er es schaffte, einzuschlafen, würde er vielleicht in seinem Hotelzimmer wieder aufwachen, wo der ganze Albtraum begonnen hatte. In seinem Hotelzimmer ... mit einer toten Nutte und ein paar Gramm Koks. Als ihm diese Aussicht in den Sinn kam, öffnete er abrupt die Augen.
    Er blickte in einen klaren Sternenhimmel. Die Luft war wieder wärmer geworden und sie war feucht. Falls er immer noch in Amerika war, wähnte er sich irgendwo im tiefen Süden. Das Gras war auch feucht, fast schwammig.
    Er richtete sich sitzend auf. Zu seiner grenzenlosen Überraschung schlug sein Herz noch und schien sich sogar wieder ein bisschen beruhigt zu haben. Er blickte sich um. Er saß auf einer Rasenfläche, die zu einem typisch amerikanischen Vorgarten zu gehören schien. Allerdings nicht im besten Viertel. Zwar nicht gerade ein Trailerpark, aber die Häuser hier hatten schon bessere Zeiten gesehen. Hier wohnten arme Leute, so viel stand fest.
    Durch die Nacht blinkte ein blauer Lichtschein. Vor dem Haus, in dessen Garten Tom saß, stand ein Krankenwagen, der das Blaulicht anhatte. Direkt daneben stand bereits der Leichenwagen. Irgendwie wunderte das Tom überhaupt nicht. Von Weitem hörte er eine Frau drinnen laut weinen. Dies war ein Haus der Trauer.
    Als er aufstand, trugen bereits zwei Männer in dunkler Kleidung eine Bahre heraus, auf der ein schwarzer Plastiksack mit Reißverschluss lag. Wer auch immer heute Nacht hier gestorben war, er verließ gerade das Haus.
    Dem traurigen Gespann folgte eine alte Frau, die von einem Mann in den Vierzigern gestützt wurde. Die Frau weinte hemmungslos. Sie musste es gewesen sein, die Tom zuvor gehört hatte.
    „Sie war doch mein einziges Kind“, schluchzte die ältere Dame. „Warum musste das passieren, Doktor?“
    „Es war eine schwierige Geburt“, sagte der Arzt mit beruhigender

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