Kurz bevor dem Morgen graut
auf deine Fragen finden.“
Tom zögerte keinen Moment. Er wollte nur noch raus aus diesem Albtraum. Mit letzter Kraft erhob er sich und schwankte auf die Tür zu. Er stieß sie auf und ging hindurch.
Tom stand in einem düsteren Raum. Der Raum war leer bis auf einen Stuhl, der in der Mitte des Zimmers stand. Über dem Stuhl hing ein geflochtenes Seil mit einer Schlinge am unteren Ende von der Decke.
Tom verstand. Dies war sein Galgen, sein letzter Weg. Er war bereit, ihn zu gehen. Nach allem, was er in dieser Nacht erlebt hatte, war es ihm unmöglich geworden, weiter zu leben. Er würde es nicht ertragen, zu leben. Er würde es nicht überleben.
Festen Schrittes ging er auf den Galgen zu. Dann blieb er abrupt stehen. Er fasste sich an die Brust und hielt den Atem an. Im selben Moment merkte er, dass sein Herz stillstand. Bevor sein Verstand dies richtig fassen konnte, fiel er gefällt wie ein Baum zu Boden. Auf dem Rücken liegend meinte er noch Kyras Gesicht über sich zu sehen, bevor alles dunkel um ihn herum wurde. Das Letzte, was seine Netzhaut speicherte, waren Kyras blaue Augen mit ihrem charakteristischen Rotstich. Dieselben Augen wie damals.
Anmerkung des Autors:
Die Shakespeare-Zitate entstammen dem Stück „Titus Andronicus“, Akt II – Szene V aus der Ausgabe „William Shakespeare, Sämtliche Werke“ - Ins Deutsche übertragen von August Wilhelm Schlegel et. al., Bechtermünz Verlag, Eltville am Rhein 1988, S. 700 Sp. 2.
VATERTAG
„Ich hab gestern Nacht mit Papa gesprochen.“
Andrea Hasenpeter drehte sich so schnell um, dass sie fast die Teekanne hätte fallen lassen.
„Du hast ... was?“, stammelte sie und verschluckte sich fast dabei.
René sah ängstlich von seinem Bett aus zu ihr auf. Er mochte es nicht, wenn seine Mutter verstört war. Sie war immer verstört gewesen, seit sich ihr Leben so dramatisch geändert hatte. Aber verstört meinte auch, dass sie reizbar, unausgeglichen und aggressiv war. Das konnte René um so weniger leiden, als sie es meistens an ihm ausließ. Er war nur ein verängstigter siebenjähriger Junge mit einer zerrissenen Familie und einer Mutter, die mit ihrem Leben nicht mehr klarkam.
Er zögerte mit seiner Antwort, fürchtete sich angesichts des finsteren Gesichtsausdruckes seiner Mutter, das Gesagte zu wiederholen.
„Ich ... ich ...“, stotterte er.
„Du ... was?“ Seine Mutter schrie jetzt. Sie hatte die Teekanne auf seinen Nachttisch gestellt. Das war ein schlechtes Zeichen. Sie hatte jetzt beide Hände frei.
„Ich ... ich hab gestern Nacht mit Papa gesprochen. Er hat gesagt, er besucht mich heute Nacht wieder.“
Routinemäßig holte Andrea mit ihrer rechten Hand weit aus, die Bewegung, die sie immer ausgeführt hatte in den letzten anderthalb Jahren, wenn René nicht so funktioniert hatte, wie sie das wollte. Und das war nicht selten der Fall gewesen.
René schloss erschrocken die Augen und sank mit dem Kopf in sein Kissen zurück.
Andrea hielt in der Bewegung inne. Die Wangen ihres kranken Sohnes waren schon gerötet genug, eine Ohrfeige war wirklich unangebracht. Er hatte 39 Grad Fieber, glühte und sein kastanienbraunes, ein bisschen zu langes Haar, das auf schmerzliche Weise genau so aussah wie das seines Vaters, klebte an seiner Stirn. Sie ließ die Hand wieder sinken und stemmte stattdessen beide in die Hüften.
Langsam öffnete René wieder die Augen.
„Du weißt genau, dass dein Vater nicht mehr hier ist, oder?“, fragte sie ihn in scharfem Ton.
René nickte zögernd.
„Warum erzählst du dann so eine Lüge?“ Ihr Ton wurde zunehmend drohender und René befürchtete, doch noch eine Ohrfeige zu kassieren.
„Tut mir leid, Mami“, wisperte er deswegen, während eine Träne über seine rechte Wange kullerte.
„Das sollte es dir auch“, fauchte seine Mutter. „Aber das hast du nicht umsonst getan. Timmys Geburtstagsparty nächste Woche ist für dich gestrichen.“
Entsetzt fuhr René aus dem Bett hoch.
„Aber du hast gesagt, ich darf hin, wenn ich wieder gesund bin!“
„Und jetzt sage ich, du gehst nicht! Basta!“
„Aber ...“
Andrea ging wieder ein paar Schritte auf sein Bett zu, so schnell, dass René sich ausweichend zur Seite rollte.
„Sehnst du dich wirklich so sehr danach, mich zur Weißglut zu treiben?“, brüllte sie ihn an. „Du weißt, was dann passiert.“
René nickte hastig, um seine Mutter nicht weiter zu provozieren.
Andrea atmete tief durch, dann drehte sie sich um, schnappte sich die
Weitere Kostenlose Bücher