Kurz bevor dem Morgen graut
Teekanne und verließ das Zimmer ihres Sohnes, wobei sie die Zimmertür krachend ins Schloss fallen ließ.
Im Wohnzimmer angekommen, warf sie die Teekanne wütend in die Spüle. Zum Glück war es eine Thermoskanne, die nicht so schnell zu Bruch ging.
Sie stützte sich keuchend auf die Küchentheke und versuchte, sich zu beruhigen. Dass der Bengel sie auch immer zum Äußersten bringen musste! Es ärgerte sie, dass sie sich fast wieder dazu hinreißen lassen hatte, ihn zu schlagen. In ihren Augen war sie eine gute Mutter. Sie versuchte doch wirklich alles, um ihm und sich ein annehmbares Leben zu bereiten, seit Jörg nicht mehr da war.
Sie nahm das Foto mit dem schwarzen Trauerrand vom Wohnzimmertisch, auf dem ein Mann Ende dreißig mit kastanienbraunen Locken zu sehen war.
„Ach, Jörg“, schluchzte sie. „Was soll ich nur mit dem Jungen machen? Er gibt Widerworte, er gehorcht nicht ... du hast in sechs Jahren nicht einmal die Hand gegen ihn erhoben, aber bei dir war er immer brav. Wie hast du das gemacht?“
Sie wusste die Antwort, natürlich. Jörg war der Ruhepol in ihrer Beziehung gewesen. Er hatte immer Respekt geerntet, von jedem. Von ihr, von ihrem Sohn, von seinen Kollegen. Er hatte nur einen Raum betreten müssen und jeder war seiner Aura erlegen. Er war mehr der beste Freund seines Sohnes als dessen Vater gewesen. Aber René hatte ihn geliebt und respektiert. Bei ihr tat er weder das Eine noch das Andere. Zumindest hatte sie den Eindruck. Sie musste sich Respekt verschaffen, bei ihr war es nicht so leicht.
Jörg lächelte auf dem Foto. Er hatte fast immer gelächelt, selbst auf dem Sterbebett. Der Krebs hatte sich durch ihn gefressen wie eine Made durch ein großes Stück Speck, aber er hatte ihm getrotzt bis zum letzten Tag. Nie hatte er seine positive Lebenseinstellung verloren. Sie wünschte inständig, sie wäre ein bisschen mehr wie er.
Seufzend stellte sie das Foto weg. Ein unheimliches Gefühl beschlich sie plötzlich, als ob ein kalter Hauch sich über ihren Nacken gelegt hätte. Sie fühlte sich beobachtet.
Ruckartig drehte sie sich um und starb fast vor Schreck, als sie vor sich eine Bewegung wahrnahm. Sie lehnte sich rücklings gegen den Kühlschrank, legte ihre Hand auf ihre Brust und wartete, bis ihr Puls sich wieder beruhigte.
„Was machst du denn hier?“, keuchte sie atemlos.
Es war René, der in seinem Schlafanzug mitten in der Küche stand.
„Ich hab Angst“, jammerte er. Seine Augen schwammen in Tränen.
„Wovor?“, fragte sie leise. Nur nicht provozieren lassen, dachte sie. Ich bin ruhig und verständnisvoll. So wie Jörg.
„Papa war gerade wieder in meinem Zimmer“, schniefte René. „Er macht mir Angst. Ich weiß nicht, was er will.“
Das war zuviel. Sie ging drei rasche Schritte auf René zu und zog ihre rechte Handfläche fast ansatzlos über seine linke Wange. Es gab ein hässlich klatschendes Geräusch, als sie zuschlug und René wich erschrocken ein paar Schritte zurück. Er sah sie fassungslos an, dann verzog er sein Gesicht in einer Weise, wie sie es nur zu gut kannte. Er würde gleich wieder zu heulen beginnen, wehleidig wie er war, während sie immer stark sein und sich um alles kümmern musste.
„Wag es nicht“, sagte sie und hob die andere Hand.
„Aber ich lüge nicht!“, heulte René laut auf. „Papa ist in meinem Zimmer und ich hab Angst vor ihm!“
Andreas linke Handfläche schlug hart auf Renés rechte Wange auf, härter als zuvor. René schwankte und fiel mit seiner Schulter gegen die Küchentheke. Er schrie wie am Spieß und ließ sich zu Boden fallen.
„Simulier nicht!“, schrie Andrea, außer sich vor Wut. „Das gibt nur einen blauen Fleck, sonst nichts!“
Mit diesen Worten packte sie ihren Sohn am Haarschopf und schleifte ihn hinter sich her in den ersten Stock zu seinem Zimmer.
„Dass du dich nicht schämst, so von deinem toten Vater zu reden!“, wetterte sie auf dem Weg dorthin. „Er hat dich so geliebt und du redest von ihm, als ob er ein Monster wäre! Ist das die Art, wie du sein Andenken ehrst?“
In seinem Zimmer angekommen, warf sie ihn grob aufs Bett. Mit einem Blick in die andere Ecke des Zimmers verkrampfte sich ihr Gesicht noch mehr.
„Warum steht das Fenster offen?“, fragte sie.
René lag zitternd auf seinem Bett, die Füße angezogen, das Gesicht noch verschwollen von den Tränen und den Schlägen.
„Was?“, hakte Andrea scharf nach. „Willst du mir jetzt erzählen, dass Papas Geist so in dein
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