Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kimmelmann

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Bernd?“
    „Was?“
    Bernd war nicht mehr hinter ihnen. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
    „Okay, das ist nicht witzig!“ Sven war auf einmal wütend. Tanja sah ihn erschrocken an.
    „Was meinst du?“
    „Na, was meine ich wohl! Dein Bruder, der Witzbold! Bernd komm aus deinem Versteck, oder ich zerr dich raus!“
    „Was redest du denn da?“
    „Na, was schon! Er hört das Geräusch, das was-weiß-ich ist und verdünnisiert sich im Gebüsch, um uns zu erschrecken! Huhu, Bernd, hat dich das Waldmonster gefressen? Buuh!“
    „Du glaubst doch nicht ...“
    „Doch, genau das! Komm, lass uns weg von hier!“
    „Aber wir können Bernd doch hier nicht zurücklassen!“
    „Der wird schon kommen. Er wird ja keine Probleme haben, uns auf diesem Pfad zu folgen. Leb wohl, Bernd! War schön, deine Bekanntschaft gemacht zu haben!“
    Er packte Tanja am Arm und schleifte sie weiter. Sie ließ sich widerstandslos mitzerren. Zwar wusste sie nicht, ob Sven recht hatte. In jedem Fall aber wollte sie von hier weg.

    Bernd tauchte nicht wieder hinter ihnen auf.
    „Wenn er nun verletzt ist?“, heulte Tanja.
    „Ach, Unsinn. Er hält sich dicht hinter uns und wird seinen Scherz erst beenden, wenn wir schon aus dem Wald raus sind.“
    Dann hörten sie ein weiteres Geräusch, diesmal rechts von ihnen. Es war wieder etwas, das sich durch das Unterholz bewegte. Dem Knicken der Äste und Zweige nach zu urteilen, war es diesmal garantiert kein Eichhörnchen. Es musste etwas viel Größeres sein.
    „Ein Hirsch wahrscheinlich oder ein Wildschwein“, meinte Sven, als er Tanjas fragenden Blick sah. „Die fürchten sich mehr vor uns, als wir uns vor ihnen. Lass uns schnell weiter gehen.“
    Sie liefen etwa fünf Minuten in die gleiche Richtung, als Tanja plötzlich unkontrolliert zu Schreien begann.
    „Was ist denn?“, fragte Sven, teils panisch, teils wütend.
    „Da war was im Gebüsch!“, quietschte Tanja und zeigte rechts neben sich.
    „Was denn?“
    „Zwei rote Punkte, die geleuchtet haben! Ich glaube, es waren zwei Augen!“
    „Quatsch mit Soße! Das waren wahrscheinlich zwei alte Fahrradreflektoren.“
    „Und was bitte sollen die reflektieren? Es ist nicht der kleinste Lichtstrahl hier, es ist stockdunkel!“
    „Dann lass uns endlich weiterlaufen!“, schrie er sie an und packte sie wieder am Arm.
    Sie liefen immer schneller, rannten fast schon. Dann plötzlich blieb Sven stehen.
    „Siehst du das auch?“, fragte er mit Tränen der Erleichterung in den Augen.
    „Was denn?“
    „Da drüben. Ich sehe das Ende des Pfades. Es sind etwa 300 Meter oder so. Siehst du die wechselnden Lichter? Das müssen Autoscheinwerfer sein. Wir sind wieder an der Bundesstraße!“
    Er drehte sich um und sah, wie Tanjas Gesicht innerhalb des Bruchteils einer Sekunde von Erleichterung in eine grausige Schreckensfratze überging.
    „Was ist denn jetzt?“ Seine Stimme überschlug sich vor Angst.
    Tanja zitterte nur, starr vor Schreck.
    „Was ist los?“, brüllte er sie an.
    „Ich hab es gesehen“, stammelte Tanja fast flüsternd. „Ich hab es gesehen. Das Ding, das Bernd geholt hat. Es ist gerade über den Weg gehuscht, als du dich umgedreht hast.“
    „Willst du mich verarschen? Bist du jetzt schon genauso bekloppt wie dein Bruder? Wollt ihr mich beide verarschen?“
    Er drehte sich wieder in Marschrichtung um.
    „Da drüben ist die Bundesstraße! Wir müssen nur noch ein paar hundert Meter diesen verschissenen Pfad entlang laufen und dann ...“
    Er erstarrte. Sein Gesicht wurde so weiß, dass man es in der alles verschlingenden Dunkelheit fast leuchten sah.
    Tanja war verschwunden. In der Sekunde, während der er sich umgedreht hatte, war sie verschwunden.
    Dann hörte er es wieder. Zermalmen. Schmatzen.
    Er konnte sich nicht bewegen, war in einer Schockstarre, wie er sie noch nie erlebt hat.
    „Ich glaube nicht an Geister“, krächzte er hilflos. „Das seid doch ihr beide. Aber nicht mit mir. Nicht mit mir.“
    Mit letzter Kraft drehte er sich um und rannte. Er rannte um sein Leben die letzten 300 Meter den Forstweg entlang. Hätte er einen klaren Gedanken fassen können, wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er vermutlich gerade einen Weltrekord aufstellte. Aber es war ihm egal. Er wollte nur noch das Ende des Pfades erreichen, da wo die Scheinwerfer waren.
    Sein Kopf fing an zu klingen, er begann zu hyperventilieren. Da war es, das Ende. Nur noch ein paar Meter. Die Bäume teilten sich. Da war ein Parkplatz. Stand dort