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Kurz vor Mitternacht

Kurz vor Mitternacht

Titel: Kurz vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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zehn Jahren hab ich nicht viel von ihr gesehen.»
    «Aber du kanntest sie als Kind. War sie… war sie damals irgendwie unausgeglichen? Oh, ich meine das nicht so, wie es jetzt vielleicht klingt. Doch werde ich das Gefühl nicht los, dass augenblicklich etwas nicht stimmt mit ihr. Sie wirkt so vollständig losgelöst, so unnatürlich im Gleichgewicht – aber ich frage mich mitunter, was hinter der Fassade vor sich gehen mag. Dann und wann kommt es mir vor, als ob sie von ganz starken Empfindungen beherrscht wird. Und dabei weiß ich überhaupt nicht, was es sein könnte! Aber ich bin sicher, dass sie nicht normal ist. Das beunruhigt mich. Und im Haus herrscht eine Atmosphäre, die allen zusetzt. Wir sind samt und sonders nervös und gereizt. Ich weiß jedoch nicht, woran es liegt. Und manchmal macht mir das Angst, Thomas.»
    «Angst?»
    Sein verwunderter Ton bewirkte, dass sie sich zusammennahm. Sie lachte etwas krampfhaft auf.
    «Das klingt absurd. Aber genau das ist’s, was ich vorhin meinte… deine Anwesenheit wird uns guttun… dadurch werden wir abgelenkt. – So, da sind wir.»
    Sie hatte die letzte Kurve genommen. Das «Möwennest» erhob sich auf einem Felsenplateau am Fluss. Auf zwei Seiten fielen die Klippen senkrecht zum Wasser ab. Garten und Tennisplatz befanden sich links vom Haus.
    Mary sagte: «Ich bring rasch den Wagen fort und komm dann zurück. Hurstall wird dich in Empfang nehmen.»
    Hurstall, der betagte Diener, begrüßte Thomas wie einen alten Freund.
    «Es freut mich so, Sie nach all den Jahren wiederzusehen, Mr Royde. Sie sind im Ostzimmer einquartiert. Sie werden alle andern wohl im Garten finden.»
    Thomas ging durchs Wohnzimmer zu der Fenstertür, die auf die Terrasse führte. Dort stand er eine Weile beobachtend, selber unbemerkt.
    Auf der Terrasse befanden sich nur zwei Frauen. Die eine saß in der Ecke auf der Balustrade und blickte aufs Wasser hinaus. Die andere betrachtete sie.
    Die erste war Audrey – dann musste die andere Kay sein. Kay ahnte nicht, dass sie beobachtet wurde, und gab sich nicht die geringste Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Thomas Royde war vielleicht kein sehr guter Beobachter, soweit es sich um Frauen handelte, aber er konnte nicht umhin, zu bemerken, dass Kay Strange eine starke Abneigung gegen Audrey hegte. Was Audrey betraf, so schien ihr die Gegenwart der andern nicht bewusst, jedenfalls aber gleichgültig zu sein.
    Seit sieben Jahren hatte Thomas seine Kindheitsgefährtin nicht mehr gesehen. Er musterte sie jetzt sehr genau. Hatte sie sich verändert, und wenn ja, in welcher Weise?
    Er kam zu dem Schluss, dass sie sich verändert hatte. Sie war dünner und blasser, sah im Ganzen ätherischer aus – aber da war noch etwas anderes, etwas, das er nicht zu bezeichnen vermochte. Sie wirkte, als hielte sie sich sorgsam im Zaum, als achte sie auf jede Bewegung – und doch schien sie die ganze Zeit angespannt zu verfolgen, was um sie herum vorging. Sie war wie ein Mensch, dachte er, der ein Geheimnis zu hüten hatte. Aber was für ein Geheimnis? Er wusste wenig von ihren Erlebnissen in den letzten Jahren. Er war auf Spuren des Kummers und des Verlusts vorbereitet gewesen, doch hier handelte es sich um etwas anderes.
    Dann schweiften seine Augen zu der anderen – zu dem Mädchen, das jetzt Nevile Stranges Frau war. Schön, ja, Mary Aldin hatte nicht übertrieben. Er hielt sie aber auch für gefährlich. Er dachte: «Ich sähe sie nicht gern in Audreys Nähe, wenn sie ein Messer in der Hand hätte…»
    Und doch, warum sollte Kay Neviles erste Frau hassen? All das gehörte der Vergangenheit an. Audrey hatte keinen Anteil mehr am Leben ihres ehemaligen Mannes.
    Schritte waren auf der Terrasse zu hören, und Nevile bog um die Ecke des Hauses. Er sah erhitzt aus und trug eine Zeitschrift.
    «Hier ist die Illustrierte Woche», sagte er. «Die andere Zeitschrift war nicht zu bekommen.»
    Dann geschahen zwei Dinge genau gleichzeitig.
    Kay sagte: «Oh, gut, gib sie mir», und Audrey streckte, ohne den Kopf zu wenden, fast geistesabwesend die Hand aus.
    Nevile war auf halbem Weg zu den beiden Frauen stehen geblieben. Ein Schatten der Verwirrung glitt über sein Gesicht. Bevor er etwas sagen konnte, erhob sich Kays Stimme, in der leichte Erregung schwang:
    «Ich will sie. Gib sie mir! Gib sie mir, Nevile!»
    Audrey zuckte zusammen, drehte den Kopf, zog ihre Hand zurück und murmelte leicht verlegen:
    «Oh, Entschuldigung. Ich dachte, du hättest mit mir gesprochen,

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