Kurz vor Mitternacht
Thomas und betrachtete sie nachdenklich.
Mary wurde rot und fuhr hastig fort: «Wer von uns ist am selbstlosesten? Mein kleiner Finger ist kürzer als Kays. Aber Thomas schlägt mich noch, scheint mir.»
«Ich schlage euch beide», lächelte Nevile. «Schaut nur.»
Er streckte die Hand aus.
«Immerhin nur die eine Hand!», rief Kay. «Der kleine Finger an deiner linken Hand ist kurz, aber der an deiner rechten ist viel länger. Und die linke Hand drückt das aus, was man mitbekommen hat, und die rechte das, was man aus seinem Leben macht. Das bedeutet also, dass du selbstlos geboren bist und mit der Zeit immer selbstsüchtiger wirst.»
«Können Sie etwa aus der Hand lesen, Kay?», lachte Mary. «Mir hat mal eine Zigeunerin geweissagt, ich würde zweimal heiraten, drei Kinder bekommen und viele weite Reisen machen. Ich muss mich also beeilen!»
«Möchtest du gern reisen?», fragte Thomas.
«Nichts täte ich lieber.»
In seiner bedächtigen Art dachte er über ihr Leben nach. Dauernd im Dienst einer alten Frau. Eine ruhige, taktvolle, geschickte Gesellschafterin.
Er erkundigte sich: «Wie lange bist du eigentlich schon hier?»
«Bald sind’s fünfzehn Jahre. Vorher hab ich meinen Vater gepflegt, bis er starb. Jetzt bin ich sechsunddreißig. Das wolltest du doch wissen, wie?»
«Ich bin überrascht», bekannte er. «Du könntest jedes Alter haben.»
«Das ist ein ziemlich zweifelhaftes Kompliment!»
Als sie sah, dass er sie forschend betrachtete, strich sie sich ihre weiße Locke zurück.
«Die weiße Strähne hab’ ich seit meiner Kindheit.»
«Ich mag sie sehr gern», sagte Thomas schlicht.
«Nun, wie lautet das Urteil?», bemerkte sie, als er sie noch immer musterte.
Sein sonnverbranntes Gesicht wurde um eine Schattierung dunkler.
«Ich weiß, es ist unhöflich, so zu starren. Ich dachte nur darüber nach, wie du wohl in Wirklichkeit bist.»
«Bitte», sagte sie hastig und hob die Tafel auf. Sie schob ihre Hand unter Audreys Arm, während sie zum Wohnzimmer hinüberging, und verkündete:
«Morgen kommt auch der alte Mr Treves zum Abendessen.»
«Wer ist das?», fragte Nevile.
«Er hat eine Empfehlung von Rufus Lord. Er wohnt im Hotel Baimoral. Ein reizender alter Herr, herzleidend und schon ziemlich gebrechlich, aber er ist geistig sehr rege und scheint ein glänzender Unterhalter zu sein. Er kennt viele interessante Leute. Jurist von Beruf.»
«Alle Menschen, die hierherkommen, sind so grässlich alt», murrte Kay.
Sie stand unter einer großen Lampe. Thomas musterte sie mit dem gleichen angespannten Interesse, mit dem er alles, was in sein Blickfeld geriet, zu beobachten pflegte.
Ihre starke, leidenschaftliche Schönheit überraschte ihn irgendwie. Eine Schönheit lebhafter Farben, üppiger, strahlender Vitalität. Von ihr blickte er zu Audrey hinüber – blass und unscheinbar stand sie da in ihrem silbergrauen Kleid.
Er lächelte vor sich hin und murmelte: «Schneeweißchen und Rosenrot.»
«Wie bitte?», fragte Mary neben ihm.
Er wiederholte seine Worte und fügte hinzu: «Du kennst doch sicher das Märchen…»
Mary erwiderte: «Das ist eine treffende Beschreibung.»
17
Genießerisch nippte Treves an seinem Glas. Ein ausgezeichneter Wein. Und ein vorzügliches Essen. Offenbar wurde das Haus tadellos geführt, obwohl die Herrin das Bett hüten musste.
Er ließ die Augen auf der auffallend schönen jungen Frau ruhen, die Nevile Stranges Gattin war. Neben ihr saß Ted Latimer, der ihr den Hof machte. Strahlend und selbstsicher plauderte sie mit ihm.
Der bloße Anblick solch herzerfrischender Vitalität wärmte Treves’ alte Knochen. Nichts Schöneres gab es als Jugend!
Kein Wunder, dass ihr Mann seine erste Frau verlassen hatte. Audrey saß neben dem alten Treves. Ein reizendes Geschöpf und eine wirkliche Dame – aber solche Frauen wurden häufig im Stich gelassen.
Er betrachtete sie von der Seite. Sie blickte auf ihren Teller herab. Etwas in ihrer völlig unbewegten Haltung erschreckte Treves. Er fragte sich, woran sie wohl denken mochte.
Als die Tafel aufgehoben war, schritt Kay im Wohnzimmer schnurstracks auf das Grammofon zu und legte eine Platte mit Tanzmusik auf.
Mary Aldin sagte entschuldigend zu Treves: «Sicher mögen Sie diese Art von Musik nicht…»
«O doch», entgegnete Treves unaufrichtig, aber höflich.
«Später können wir Bridge spielen. Aber es hätte keinen Zweck, jetzt damit anzufangen, weil Lady Tressilian noch mit Ihnen plaudern
Weitere Kostenlose Bücher