Kurz vor Mitternacht
Luft setzen. Matthew betrachtete ihn nun einmal als seinen Adoptivsohn.»
«Ich weiß.»
Lady Tressilian seufzte. Mit gedämpfter Stimme fragte sie: «Wissen Sie auch, dass Matthew hier ertrunken ist?»
«Ja.»
«Viele Leute haben sich gewundert, dass ich hiergeblieben bin. Aber hier fühle ich mich ihm nahe. Ich hatte immer gehofft, dass ich ihm bald folgen würde, aber es scheint, dass ich noch lange auf Erden bleiben soll – hilflos, von andern abhängig – »
«Aber Sie haben sehr treue und ergebene Angestellte, nicht wahr? Und sicher ist es auch ein großes Glück für Sie, dass Sie Miss Aldin haben.»
«O ja. Ich bin froh, dass Mary da ist.»
«Ist sie verwandt mit Ihnen?»
«Eine entfernte Nichte. Sie gehört zu jenen selbstlosen Geschöpfen, die sich immer für andere aufopfern. Erst hat sie ihren Vater gepflegt, und nun sorgt sie für mich und mein Haus. Sie ist außerordentlich gescheit und belesen. Zudem hat sie eine geschickte Art, alle Streitigkeiten und Ärgernisse zu vermeiden.»
«Ist sie schon lange bei Ihnen?»
«Seit zwölf Jahren – nein, schon länger. Dreizehn… oder vierzehn. Sie war mir von jeher ein großer Trost.»
Treves nickte.
Lady Tressilian, die ihn durch halbgeschlossene Lider betrachtete, sagte plötzlich:
«Was ist los? Sie machen sich über etwas Gedanken?»
«Ein bisschen», antwortete Treves. «Nur ein bisschen. Sie haben sehr scharfe Augen.»
«Ich liebe es, die Menschen zu beobachten. Ich merkte immer sofort, wenn Matthew sich irgendwelche Sorgen machte.»
Sie seufzte abermals und lehnte sich in die Kissen zurück.
«Ich muss Ihnen jetzt gute Nacht sagen. Ich bin müde. Aber es war mir ein großes Vergnügen. Kommen Sie bald wieder zu mir.»
«Sie können sich darauf verlassen, dass ich von Ihrer freundlichen Einladung Gebrauch machen werde. Ich hoffe nur, dass ich Sie nicht zu sehr angestrengt habe.»
«O nein. Ich werde immer ganz plötzlich müde. Seien Sie so gut und läuten Sie für mich, ja?»
Treves zog bedächtig an dem altmodischen Glockenstrang, der in einer großen Quaste endete.
«Eine richtige Antiquität», bemerkte er.
«Meine Glocke? Ja. Ich mag dieses elektrische Zeug nicht. Meistens ist so eine elektrische Klingel nicht in Ordnung, und dann drückt man vergebens auf den Knopf. Dieses Ding versagt nie. Die Glocke läutet oben in Barretts Zimmer – sie ist über ihrem Bett angebracht. So kann Barrett immer rasch kommen, und wenn es einmal länger dauert, läute ich einfach nochmal.»
Als Treves das Zimmer verließ, hörte er, wie der Strang abermals gezogen wurde, und vernahm von irgendwo über seinem Kopf das Klingeln. Er schaute auf und bemerkte die Drähte, die sich längs der Decke hinzogen. Barrett kam eilends die Treppe herunter und ging an ihm vorbei, um dem Ruf ihrer Herrin Folge zu leisten.
19
L angsam schritt Treves die Treppe hinab. Seine Miene drückte Unsicherheit aus.
Er fand die ganze Gesellschaft im Wohnzimmer versammelt. Mary schlug sogleich eine Bridge-Partie vor, doch Treves lehnte mit der Entschuldigung ab, dass er schon bald aufbrechen müsse.
«Mein Hotel ist sehr altmodisch», erklärte er. «Dort erwartet man, dass die Gäste vor Mitternacht heimkehren.»
«Bis dahin ist noch viel Zeit – erst halb elf», sagte Nevile. «Man wird Sie hoffentlich nicht aussperren?»
«O nein. Ich bezweifle sogar, dass die Eingangstür in der Nacht abgeschlossen wird. Um neun Uhr wird sie zugemacht, aber man braucht bloß auf die Klinke zu drücken und kann hinein.»
«Tagsüber macht hier niemand die Tür zu», bestätigte Mary. «Auch bei uns steht sie den ganzen Tag weit offen – aber am Abend schließen wir zu.»
«Wie lebt es sich eigentlich im Balmoral?», erkundigte sich Ted Latimer.
«Recht angenehm», gab Treves Auskunft. «Gute Betten, gute Küche, geräumige Schränke und riesige Badezimmer. Allerdings hatte ich Pech. Vorsorglicherweise hatte ich mir zwei Zimmer im Erdgeschoss reservieren lassen, weil ich herzleidend bin und keine Treppen steigen darf. Doch als ich ankam, waren die Zimmer infolge eines Krankheitsfalles nicht frei, und ich musste im obersten Stock einziehen. Na, glücklicherweise ist ein Lift da, sodass es im Grunde keine Rolle spielt, ob ich unten oder oben wohne.»
Kay rief: «Ted, warum ziehst du nicht auch ins Balmoral? Dann hättest du es nicht so weit von hier.»
«Ach, das Hotel scheint nicht ganz mein Fall zu sein.»
«Da haben Sie Recht, Mr Latimer», nickte Treves. «Es liegt gar
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