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Kurz vor Mitternacht

Kurz vor Mitternacht

Titel: Kurz vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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möchte.»
    «Das wird mir ein Vergnügen sein. Sie kommt nie herunter?»
    «Früher kam sie im Rollstuhl herunter. Deshalb wurde auch der Lift eingebaut. Aber jetzt bleibt sie immer in ihrem Zimmer. Da kann sie reden, mit wem sie will, indem sie Audienz erteilt.»
    «Ausgezeichnet ausgedrückt. Sie hat etwas Königliches.»
    In der Mitte des Zimmers bewegte sich Kay in gemessenem Tanzschritt.
    «Schieb das Tischchen zur Seite, Nevile», sagte sie im Befehlston. Ihre Augen glänzten.
    Folgsam schob Nevile das Tischchen zur Seite. Dann trat er auf Kay zu, aber sie wandte sich demonstrativ Ted Latimer zu.
    «Komm, Ted, lass uns tanzen.»
    Nevile zögerte einen Augenblick, dann trat er zu Audrey, die am Fenster stand.
    «Magst du tanzen, Audrey?»
    Sein Ton war förmlich, fast kühl. Reine Höflichkeit schien aus der Aufforderung zu sprechen. Nach leichtem Zaudern folgte Audrey ihm.
    Währenddessen machte Mary eine beiläufige Bemerkung zu Treves, aber der alte Herr schien sie nicht zu hören. Sie vermochte nicht festzustellen, ob er die Tanzpaare beobachtete oder Thomas Royde aufs Korn genommen hatte, der allein auf der anderen Seite stand.
    Nach einer Weile löste sich Audrey aus Neviles Arm und sagte mit einem kleinen entschuldigenden Lachen:
    «Es ist wirklich zu heiß zum Tanzen.»
    Sie wandte sich der offenen Fenstertür zu und trat auf die Terrasse hinaus.
    «Oh, geh ihr doch nach, du Narr», murmelte Mary.
    Sie hatte lauter gesprochen als gewollt, und der alte Treves blickte sie verwundert an.
    Sie errötete und stieß ein verwirrtes Lachen aus.
    «Ich habe laut gedacht. Aber er reizt mich wirklich. Er ist so schwerfällig!»
    «Mr Strange?»
    «Oh, nein, nicht Nevile. Ich meine Thomas Royde.»
    Thomas Royde traf gerade Anstalten, sich vorwärts zu bewegen, da war Nevile Audrey bereits gefolgt.
    Eine kleine Weile ruhten Treves’ Augen nachdenklich auf der Fenstertür, dann kehrten sie zu dem tanzenden Paar zurück.
    «Ein flotter Tänzer, dieser junge Mann», bemerkte er. «Latimer heißt er, nicht wahr?»
    «Ja, Edward Latimer.»
    «Vermutlich ein alter Freund von Mrs Strange?»
    «Ja.»
    «Und womit verdient sich dieser höchst ansehnliche junge Mann seinen Lebensunterhalt?»
    «Oh, das weiß ich nicht einmal.»
    «Soso», bemerkte Treves und legte eine Welt von Verständnis in das harmlose Wörtchen.
    «Er wohnt im Hotel Easterhead», fuhr Mary fort.
    «Eine sehr angenehme Situation», versetzte Treves, in Gedanken noch immer bei dem sorglosen Leben, das der junge Mann offensichtlich führen konnte.
    Sinnend fuhr er nach einer Weile fort: «Hat eine interessante Schädelform… sehr ungewöhnlich. Diese Schädelform sah ich zum letzten Mal bei einem Mann, der wegen Mordes an einem Juwelier verurteilt wurde.»
    «Sie meinen doch nicht etwa…»
    «Ganz und gar nicht», fiel der alte Herr ein. «Sie missverstehen mich. Ich wollte damit nur andeuten, dass sich hinter einem bestrickenden Äußeren eine schwarze Seele verbergen kann. Sonderbar, aber so ist’s.»
    Mild lächelte er sie an.
    «Wissen Sie, Mr Treves», stammelte Mary, «ich fürchte mich ein bisschen vor Ihnen.»
    «Aber ich bitte Sie!»
    «Doch, doch. Sie sind ein so scharfer Beobachter.»
    «Meine Augen sind so gut wie je», versetzte Treves friedlich. «Ob das ein Glück oder ein Unglück ist, vermag ich nicht zu entscheiden.»
    «Wie könnte es denn ein Unglück sein?»
    Treves schüttelte zweifelnd den Kopf.
    «Manchmal wird man in eine verantwortungsvolle Position gedrängt. Und es ist nicht immer leicht, zu sagen, welche Richtung man einschlagen soll.»
    Hurstall brachte den Kaffee. Servierte Mary, dem alten Herrn und Thomas Royde eine Tasse und stellte dann auf einen Wink Marys hin, das Tablett auf dem Couchtisch ab.
    Kay rief über Teds Schulter: «Wir wollen die Platte noch abspielen lassen.»
    Mary sagte: «Ich bringe Audrey den Kaffee.»
    Sie schritt zur Fenstertür, die Tasse in der Hand. Treves begleitete sie. Als sie auf der Schwelle stehen blieb, schaute er über ihre Schulter.
    Audrey saß in der Ecke auf der Balustrade. Der helle Mondschein schien ihre Schönheit zu beleben – eine Schönheit der Linien eher als der Farben. Diese Schönheit verging auch nicht mit dem Alter. Sie saß reglos da, während Nevile Strange dastand und auf sie niederblickte.
    Nevile machte einen Schritt auf sie zu und sagte: «Audrey, du…»
    Sie sprang leicht auf die Füße und griff sich mit der einen Hand ans Ohr: «Oh, mein Ohrring! Er muss

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