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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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ist. Alles, was er ihr zu bieten hat, ist doch ein britischer Pass – und sogar den hat Bob Turner bezahlt. Hast
     du nicht ein kleines bisschen Mitleid mit ihr?«
    Einen Augenblick lang schweigt Vera.
    »Ehrlich gesagt, nein«, sagt sie dann. »Nicht nach dem Zwischenfall mit dem Diktiergerät. Wieso – tut sie dir etwa leid?«
    |296| »Manchmal schon.«
    »Aber du weißt schon, Nadia, dass sie mit
uns
Mitleid hat, oder? In ihren Augen sind wir hässlich und dumm – und flachbrüstig.«
    »Was ich nicht verstehen kann, ist, was Dubov an ihr findet. Wo er doch eigentlich einen so scharfsinnigen Eindruck macht.
     Man möchte meinen, er sollte sie durchschauen.«
    »Das ist dieser Busen. Männer sind alle gleich.« Vera seufzt. »Hast du gesehen, wie der kahle Ed ihr nachläuft? Ist das nicht
     erbarmungswürdig?«
    »Aber hast du auch gesehen, was für ein Auto er fährt? Und wie Papa und Dubov es angestarrt haben?«
    »Und Mike auch.«
     
    Als Valentina ging, stürzte der kahle Ed in den Garten hinaus und rief ihr mit jammernder Stimme nach, doch sie drehte sich
     nicht einmal mehr um. Sie schlug nur die Ladatür zu, brauste davon und ließ eine stinkende blaue Dieselwolke zurück, die sich
     im Garten ausbreitete. Winkend und die Arme schwenkend, rannte der kahle Ed auf die Straße, sprang in einen dort geparkten
     Wagen – ein Fünfziger-Jahre-Cadillac-Cabriolet, hellgrün, mit Flossen und viel Chrom – und raste ihr durchs Dorf hinterher.
     Vater, Mike, Dubov und Eric Pike standen am Fenster und starrten ihm nach. Dann hielten sie sich an den Bierflaschen fest,
     die ich mitgebracht hatte. Nach etwa einer Stunde verabschiedete sich Eric Pike. Daraufhin gingen sie zu Pflaumenwein über.
     
    »Vera, du glaubst aber nicht, dass Papa vielleicht tatsächlich der Vater sein könnte? Es gibt ja Männer in seinem Alter, die
     noch Väter geworden sind. Papa hat am Anfang selbst davon geredet.«
    »Sei nicht albern, Nadia. Schau ihn dir doch nur an. Außerdem |297| hat er selbst davon angefangen, dass die Ehe gar nicht vollzogen wurde. Am ehesten in Frage kommt wohl der kahle Ed. Aber
     stell dir mal vor, mit jemandem verwandt zu sein, der ›kahler Ed‹ heißt   …«
    »Ich nehme an, er hat noch einen anderen Namen. Und wenn Papa sich von ihr scheiden lässt, werden wir ja nicht mit ihm verwandt.«
    »Wenn   …!«
    »Meinst du, er könnte noch einmal umfallen?«
    »Da bin ich mir ziemlich sicher. Vor allem dann, wenn er sich einredet, dass das Kind ein Junge wird und durch Oralsex gezeugt
     wurde oder durch irgendeine Art von platonischem Gedankenaustausch.«
    »So dumm kann er nicht sein.«
    »Kann er wohl«, sagt Vera. »Überleg doch bloß, was er bis jetzt schon alles zuwege gebracht hat.«
    Wir glucksen und kichern. Ich fühle mich ihr nah und gleichzeitig im Dunkeln in diesem Bett über ihr auch fern. Als Kinder
     haben wir uns oft über unsere Eltern lustig gemacht.
     
    Es muss mindestens schon drei Uhr sein. Die Geräusche von nebenan sind verstummt. Fast bin ich schon weggedämmert. Es ist
     behaglich im Dunkeln. Wir können uns gegenseitig atmen hören, doch weil wir unsere Gesichter dabei nicht sehen können, ist
     es wie im Beichtstuhl, wo sich kein Gesichtsausdruck offenbart, kein Urteil und keine Scham. Mir ist klar, dass sich jetzt
     eine Chance wie vielleicht nie wieder bietet.
    »Papa sagte, in dem Lager in Drachensee sei dir etwas passiert. Etwas mit Zigaretten. Kannst du dich daran erinnern?«
    »Natürlich kann ich mich daran erinnern.«
    Jetzt warte ich, dass sie mehr erzählt. Aber nach einer |298| Weile sagt sie: »Es gibt Dinge, die man lieber nicht wissen sollte, Nadia.«
    »Ich weiß. Aber erzähl es mir trotzdem.«
     
    Das Arbeitslager in Drachensee war ein weitläufiger, hässlicher, chaotischer und grausamer Ort. Hier lebten in niedrigen verlausten
     Betonbaracken auf engstem Raum zusammengepfercht Zwangsarbeiter aus Polen, der Ukraine und Weißrussland, die man geholt hatte,
     um mit ihren Kräften das deutsche Kriegstreiben zu unterstützen, holländische und belgische Kommunisten und Gewerkschafter,
     die hier umerzogen werden sollten, Zigeuner, Homosexuelle, Kriminelle, Juden auf Zwischenstation auf dem Weg in den Tod ebenso
     wie Insassen von Heilanstalten und gefangen genommene Widerstandskämpfer. Die einzige Ordnung, die in einem solchen Lager
     herrschen konnte, war das Gesetz des Terrors. Und dessen Regeln galten auf jeder Ebene. Jede Gemeinschaft, jede Untergruppe
    

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