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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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hatte ihre eigene Hierarchie, ihre eigenen Regeln und ihre eigene Art von Terror.
    Ganz oben in der Hierarchie der Zwangsarbeiterkinder stand ein magerer, verschlagen aussehender Junge namens Kishka. Er war
     vielleicht sechzehn Jahre alt, jedoch schmächtig für sein Alter, was damit zu tun haben mochte, dass er eine Kindheit in Hunger
     und Elend hinter sich hatte. Möglicherweise hing es aber auch damit zusammen, dass er viel zu früh angefangen hatte zu rauchen.
     Jetzt rauchte er vierzig Zigaretten am Tag.
    Obwohl er so klein war, hatte Kishka ständig eine Clique größerer Kinder um sich herum, die ihm aufs Wort gehorchten. Zu diesen
     gehörten sein Kumpan Vanenko, ein Scheusal, zwei große, nicht eben helle moldawische Jungen und ein gefährliches Mädchen mit
     irrem Blick, Lena. Dieser Lena schienen die Zigaretten nie auszugehen – man erzählte sich, dass sie mit den Wächtern schlief.
     Um Kishka |299| und seine Bande mit Zigaretten zu versorgen, wurden die anderen Kinder »besteuert«, das heißt, sie mussten die Zigaretten
     ihrer Eltern stehlen und sie Kishka aushändigen, damit er sie verteilen konnte. Wer nicht mitmachte, wurde bestraft.
    Alle Kinder im Lager bezahlten ihre Zigarettensteuer, nur die scheue kleine Vera brachte nie etwas mit. Das konnte man nicht
     durchgehen lassen. Vera beteuerte, dass ihre Eltern nicht rauchten, sie tauschten ihre Zigaretten immer gegen Essen und andere
     Dinge ein.
    »Dann musst du eben bei jemand anderem Zigaretten klauen«, sagte Kishka.
    Vanenko und die moldawischen Jungen grinsten. Lena zwinkerte ihnen zu.
    Vera geriet in Panik. Wo sollte sie Zigaretten hernehmen? Sie schlüpfte in die Baracken, als niemand da war, und durchstöberte
     die unter den Betten verstauten ärmlichen Habseligkeiten. Doch jemand erwischte sie dabei und setzte sie mit ein paar kräftigen
     Ohrfeigen vor die Tür. Völlig verzweifelt angesichts der auf sie wartenden Prügel stand sie in einer Ecke des Hofs und überlegte,
     wo sie sich verstecken konnte, obwohl ihr natürlich klar war, dass sie sie finden würden, wo auch immer sie sich vor ihnen
     zu verbergen versuchte. Da bemerkte sie eine Jacke, die an einem Nagel an einem Türpfosten hing. Sie gehörte einem Wächter,
     der momentan am Außenzaun stand und eine Zigarette rauchte. Er schaute nicht zu ihr her, sondern in die andere Richtung. Wieselflink
     fingerte Vera seine Taschen ab und fand dabei tatsächlich ein noch fast volles Päckchen Zigaretten, das sie im Ärmel ihres
     Kleides verbarg.
    Als Kishka später auftauchte, übergab sie ihm die Zigaretten. Er war hocherfreut. Die Zigaretten der Soldaten hatten einen
     viel höheren Tabakgehalt als das, was man an die Arbeiter als Zigaretten verteilte.
    |300| Hätte Vera nur eine oder zwei Zigaretten geklaut, wäre die Geschichte vermutlich anders verlaufen. So jedoch musste es dem
     Wächter auffallen, dass das Päckchen nicht mehr da war. Mit seiner Reitpeitsche in der Hand streifte er über den Hof und griff
     sich ein Kind nach dem anderen. Dass er nicht rauchen konnte, machte ihn aggressiv. Wer hatte den Dieb gesehen? Irgendjemand
     musste doch etwas wissen. Wenn sie nicht gestehen wollten, würde der ganze Block dafür büßen. Auch die Eltern. Keiner sollte
     davonkommen. Er sagte, es gäbe einen Strafblock, aus dem bisher nur wenige lebend wieder herausgekommen seien. Die Kinder
     hatten auch schon davon reden hören und bekamen es mit der Angst zu tun.
    Es war Kishka selbst, der Vera anzeigte. »Bitte, Herr«, winselte er, als der Wächter ihm das Ohr umdrehte, »die dort war es
     – die Kleine da drüben. Die hat sie geklaut und an die anderen Kinder verteilt.« Er deutete auf die kleine Vera, die still
     vor einer der Baracken hockte.
    »Du warst das?« Der Wächter packte Vera am Kragen. Sie war nicht geistesgegenwärtig genug, um es abzustreiten. Sie fing an
     zu weinen. Er zerrte sie in den Wachraum und sperrte die Tür ab.
     
    Als Mutter aus der Fabrik kam und feststellte, dass Vera nicht da war, machte sie sich auf die Suche. Jemand gab ihr einen
     Tipp, wo sie nachschauen sollte.
    »Deine Tochter ist ein diebisches kleines Luder«, sagte der Wächter. »Sie muss ihre Lektion bekommen.«
    »Nein«, flehte Mutter in ihrem gebrochenen Deutsch, »sie wusste doch gar nicht, was sie tat. Die Großen haben sie angestachelt.
     Was soll sie denn mit Zigaretten? Sehen Sie nicht, was für ein dummes kleines Ding sie noch ist?«
    »Ja, dumm ist sie«, sagte der Wächter,

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